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Zu viele „hinterwäldlerische” Pflegeheime

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Die Bundesmittel aus dem neuen Pflegegeldgesetz haben sich die Länder mit dem Versprechen erstritten, ihre Pflegeheime auszubauen. Aufgrund der katastrophalen Zustände dort könnte das allerdings bis zu 62 Milliarden Schilling kosten, wurde in einer Studie festgestellt.

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Die Bundesmittel aus dem neuen Pflegegeldgesetz haben sich die Länder mit dem Versprechen erstritten, ihre Pflegeheime auszubauen. Aufgrund der katastrophalen Zustände dort könnte das allerdings bis zu 62 Milliarden Schilling kosten, wurde in einer Studie festgestellt.

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Es sollte ein großer Wurf werden, und Sozialminister Josef Hesoun hat auch tatsächlich weit ausgeholt dafür. Mit dem neuen Bundespflegegeldge-setz (BPGG)- es trat am 1. Juli in Kraft - setzt Österreich zu einem beachtlichen sozialen Höhenflug an. „Deutschland beneidet uns”, formuliert es etwa Hesouns zuständiger Sektionschef Gerd Gruber. Die Sozial-landesrätin aus Niederösterreich, Liese Prokop, assistiert: „Das ist ein Jahrhundertwerk, für das wir in allen Ländern Gratulationen bekommen”.

Die Praxis wird jedoch alle jene Ausweichmöglichkeiten und spekulativen Elemente des Gesetzes unbarmherzig aufdecken, die Minister Hesoun und die Landeshauptleutekonferenz des riesigen Finanzbedarfes wegen offenbar in Kauf nehmen mußten.

So gibt es für die nächsten fünf Jahre keine Möglichkeit, sich den Anspruch auf die Einreihung in die finanziell attraktiveren Pflege-Stufen drei bis sieben auch vor Gericht zu erstreiten. Das gilt nach Schätzungen des Sozialministeriums immerhin für vierzig Prozent aller Antragsteller. Wer mehr will, als der bisherigen Hilf-losenzuschuß schon ausmachte, „ist von der Willkür der Behörden abhängig”, hält etwa der Wiener Rechtsexperte und Universitätsprofessor Heinz Barazon diese Regelung für verfassungswidrig.

Ein ähnliches Hintertürl läßt sich der Bund offen, wenn er - wie geplant - den auszahlenden Stellen (Pensionsversicherungen, Landesinvalidenämter, Bundesrechenamt) die Kosten ersetzen soll: Wird ihm etwa der Verwaltungsaufwand dort zu hoch - alleine die Pensionsversicherungen rechnen mit einer Milliarde Schilling - ist lediglich eine Pauschalabgeltung vorgesehen.

Niemand kann noch die Kosten für die notwendigen ärztlichen Gutachten einschätzen. Vor allem auch deswegen, weil bei einem siebenstufigen Schlüssel im Gegensatz zum ehemaligen Hilflosenzuschuß auch Umstufungen vorkommen werden.

Das größte Risiko sind allerdings die Länder eingegangen. Nach einem special agreement in den Verhandlungen konnten sie auch für die Bewohner der Pflege- und Altenheime einen Anspruch auf Pflegegeld erstreiten. Das verwundert, konterkariert es doch die ursprüngliche Absicht des Gesetzes, die Pflege zu Hause finanziell zu erleichtern, um teure Heimbetten zu ersparen.

Doch der Einsatz der Länder ist verständlich, wenn man weiß, daß in diesen Fällen nur 20 Prozent der Unterstützung den Bedürftigen bleiben, der Rest aber an die - oft kommunalen -Heimerhalter geht. „Die Länder wollen sicher einen Teil des Geldes umleiten”, diagnostiziert etwa Walter Sulzbacher, zuständig für die Abwicklung der Auszahlung im Hauptverband der Sozialversicherungen den Interessenskonflikt.

Doch die Landeshauptleute könnten sich dieses Zuckerl teuer erkauft haben. Als Gegenleistung haben sie sich nämlich in einem Artikel-1 Sa-Staatsvertrag verpflichtet, den Standard der Pflegeheime österreichweit anzugleichen. Ein Phyrrussieg. Denn, so Sektionschef Gruber: „Völlig offen ist noch, was der Ausbau dieser Sachleistungen kosten wird”.

Nehmen die Länder den Vertrag ernst, wird es mehr sein, als sie über die Pflegeheime je an Subventionen lukrieren können. Das Österreichische Bundesinstitut für Gesundheitswesen (OBIG), eine Institution des Gesundheitsministeriums, hat nämlich vor kurzem den Ist-Zustand der österreichischen Alten- und Pflegeheime erhoben.” Bei dem erschreckenden Niveau und den noch erschreckenderen Differenzen könnte die Erfüllung des Staatsvertrags, schätzt das OBIG, bis zu 62 Milliarden Schilling kosten.2'

Unklare Kosten

Beispiel Personal: Kärnten etwa bildet hier das absolute Schlußlicht in der Reihe der Bundesländer. Jede „qualifizierte Pflegeperson”, erhob das OBIG, muß hier 12,7 Betten betreuen, Niederösterreich oder Tirol schaffen das weitaus bessere Verhältnis von eins zu sieben. Auch macht der Anteil an diplomierten Krankenschwestern in Kärnten lediglich 15,9 Prozent aus, die Steiermark kommt als Spitzenreiter auf 24,9 Prozent.

Insgesamt stellt das OBIG eine gravierende Lücke im medizinisch-technischen Bereich fest: der Personalschlüssel ergibt hier in ganz Österreich das Verhältnis von 1:299. Zum Vergleich: Das Kuratorium deutscher Altenhilfe empfiehlt ein Verhältnis von 1:30. „Nahezu inexistent”, so bemängelt das OBIG weiter, „ist das Angebot einer qualifizierten Physio-oder Ergotherapie”.

Beispiel Unterbringung: Unpersönliche Großheime sind in Kärnten mit 28,6 Prozent weitaus seltener als in Niederösterreich, wo 74,6 Prozent aller Pfleglinge in Bettenburgen mit über 100 Betten leben.

Gleichfalls stark divergierend ist der Bauzustand der Gebäude. Gewaltigen Aufholbedarf hat dabei offenbar die Steiermark. Beinahe zwei Drittel aller Heime sind hier älter als 25 Jahre, während im Burgenland der diesbezügliche Anteil nur bei 40 Prozent liegt.

Eher modern gibt sich Tirol. Gleich 36 Prozent der Einrichtungen sind jünger als zwölf Jahre. Tirol war nach Vorarlberg auch das zweite Bundesland, das 1990 bereits ein Vorläufermodell des jetzigen Bundespflegege-setzes beschlossen hatte.

„Besonders schlecht schnitten auch die Gebäude in Niederösterreich ab”, resümiert das OBIG, das auch die Heimleiter über die Elektrik, Installationen und Bausubstanz der Heime befragt hatte. In allen drei Bereichen liegen die Niederösterreicher weit unter dem Bundesdurchschnitt.

Beispiel Gebäudeeignung: Richtig kribbelig wird es bei der Beurteilung der Eignung der Gebäude. Ein Viertel aller Österreichischen Alten- und Pflegeheime mit mindestens einem Stockwerk besitzen keinen Lift. Zu gleichen Anteilen sind die Korridore nicht breit genug, um mit Betten fahren zu können. Gar in zwei Drittel aller Heime müssen bettlägrige Bewohner vor dem Zimmerwechsel aus dem Bett gehoben werden, und danach wieder hinein - weil die Türlichten einfach zu schmal sind. Die Steiermark erreicht hier traurige Spitzenposition, gleich 41 Prozent ihrer Alten- und Pflegeheime sind nicht als solche gebaut worden.

Knausrig ist man hier auch mit dem Platz. Das typische Zweibettzimmer (45 Prozent aller Zimmer) weist gerade 15,2 Quadratmeter auf, in Kärnten sind es zum Vergleich 24,5 Quadratmeter. Nur das Burgenland traut sich' s noch kleiner. Österreich insgesamt hinkt Deutschland diesbezüglich um rund zwanzig Jahre hinterher, stellt das OBIG fest.

Und wirklich „hinterwäldlerisch” werden die Steirer, wenn es ums Duschen geht. Unglaubliche 14 Prozent der Pflegeheimbewohner haben ein eigenes WC und Dusche (oder Bad), der Vergleichs wert des eigentlich auch nicht berauschenden Spitzenreiters Kärntens beträgt 47,9 Prozent.

Diese niedrigen Niveaus sind schon bedenklich. Die unterschiedlichen Voraussetzungen aber alle auf einen Nenner zu bringen, könnte den beschlossenen Staatsvertrag sprengen. Josef Ratzenböck, Vorsitzender der Landeshauptleutekonferenz , versucht es anzudeuten: „Jedes Bundesland hat halt ein bißl eine eigene Vorstellung von Qualität”.

Niederösterreich hat vor einem halben Jahr bereits ein Ausbauprogramm bis zum Jahr 2011 beschlossen. Landesrätin Prokop: „Wir haben diese Regelung kommen gesehen”.

Zwei Milliarden Schilling waren damals ohnehin geplant. Aufgrund des BPGG hat es sich um 30 Prozent verteuert. Anderen Bundesländern wird es schlimmer gehen.Realistisch sieht Prokop seither auch die personelle Situation. „Wir brauchen um ein Drittel mehr Pflegepersonal”. Nicht zuletzt wegen des neuen Gesetzes werden leichte Fälle zu Hause bleiben (können), und die Heime verstärkt mit besonders schweren Pflegefällen konfrontiert sein. l)Aus anderem, aber nie realisierten Anlaß: Folgekostenabschätzung zum Entwurf eines Bundes-Pflegeheimgesetzes, November 1992. 587 Heime in Österreich wurden befragt, je zur Hälfte Wohn- und tatsächliche Pflegeplätze, Rücklaufquote 71 Prozent. Ergebnisse ohne Vorarlberg (aufgrund der finanziellen Struktur der dortigen Heime) und Wien (nicht repräsentativ).

2) Maximalvariante des ÖB IG für den geschätzten Bettenmehrbedarf von 11.858, Neubau beziehungsweise Sanierung der Gebäude, Super-vision und Personalausstattung nach internationalen Richtlinien. Die Minimalvariante (weniger Betten, eher Sanieren als Neubauten, schlechtere Personalausstattung) kommt auf 35,2 Milliarden Schilling. Beide kalkuliert bis zum Jahr 2010.

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