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Zuckerbrot und Peitsche

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Die an der Entwicklung in der Tschechoslowakei interessierte Öffentlichkeit konnte in den letzten Monaten ein forciertes Vorgehen des Regimes gegen jede Art von Bürgerrechtsaktivität beobachten. Wie bekannt, erreichten die sich über Jahre hinziehenden bürokratischen und polizeilichen Repressionsmaßnahmen ihren Höhepunkt Ende vergangenen Jahres mit dem aufsehenerregenden Prozeß gegen die Mitglieder des VONS(Komitee zur Verteidigung zu Unrecht Verfolgter), die bereits am 29. Mai 1979 in Prag verhaftet worden waren.

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Die an der Entwicklung in der Tschechoslowakei interessierte Öffentlichkeit konnte in den letzten Monaten ein forciertes Vorgehen des Regimes gegen jede Art von Bürgerrechtsaktivität beobachten. Wie bekannt, erreichten die sich über Jahre hinziehenden bürokratischen und polizeilichen Repressionsmaßnahmen ihren Höhepunkt Ende vergangenen Jahres mit dem aufsehenerregenden Prozeß gegen die Mitglieder des VONS(Komitee zur Verteidigung zu Unrecht Verfolgter), die bereits am 29. Mai 1979 in Prag verhaftet worden waren.

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Sechs Mitglieder dieser aktivsten Gruppe der Bürgerrechtsbewegung „Charta 77” wurden in einem Prozeß vor einem Prager Bezirksgericht verurteilt. Im Dezember 1979 wurden diese Urteile vom Obersten Gerichtshof der Tschechoslowakei bestätigt: der unabhängige Sozialist Dipl.-Ing. Petr Uhl erhielt sechs Jahre, der Schriftsteller Vaclav Havel viereinhalb, der christliche Philosoph und Mathematiker Vaclav Benda vier, der Journalist Jifi Dienstbier drei, die Journalistin Otta Bednäfovä drei, und der Theaterfachmann Adalbert Cerny ebenfalls drei Jahre unbedingten Freiheitsentzug. Die Psychologin Dana Nemcovä wurde zu zwei Jahren bedingt verurteilt.

Außer den bereits Genannten befindet sich noch Dozent Jaroslav Sabata (einer der Sprecher der Charta 77) im Gefängnis, zusammen mit einigen Dutzenden anderer Personen, die entgegen den Bestimmungen des Völkerrechts und der tschechoslowakischen Gesetzgebung wegen sogenannter Aufwiegelung und Verbrechen gegen die Republik verurteilt wurden.

Es braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß keiner der Angeklagten auch nur eines einzigen dieser „Verbrechen” überführt werden konnte, und daß alle erwähnten Prozesse zu jener Art von inszenierten Prozessen gehören, die nicht nur für die Tschechoslowakei, sondern in noch größerem Maße für die Sowjetunion und andere osteuropäische Länder in den fünfziger Jahren so typisch waren.

Politische Prozesse sind somit nichts Neues. Sie gehören zu den festen Bestandteilen eines jeden totalitären Systems, dessen Regimeschwäche keine wie auch immer geartete Formierung einer kritischen oder sogar oppositionellen Gruppierung zulassen kann, möge sich diese auch noch so sehr auf die Gesetzgebung ihres eigenen Landes berufen.

Schon die bloße Möglichkeit nicht-konformistischer Denkweise ist gefährlich. Vor allem darum, weil das totalitäre Regime seinen Bürgern keine Perspektive bieten kann. Es gründet sich auf Sinnentleerung, auf der Gleichgültigkeit der Staatsbürger zu ihrer geschichtlichen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ja sogar zu ihrem persönlichen Schicksal und die Abhängigkeit eines jeden einzelnen vom Staat.

Der christliche Philosoph und derzeit inhaftiertes VONS-Mitglied Vaclav Benda meinte einmal zu diesem Thema, daß das Regime „Zuckerbrot und Peitsche” zur einzig gültigen Form seiner Ideologie erklärt habe. Dem müßte nur noch hinzugefügt werden, daß der Vorrat an Zuckerbrot von Tag zu Tag kleiner wird, so daß mit der Zeit wohl die Peitsche allein übrigbleibt.

Konsequenterweise muß der Staat in jeder Demonstration der Unabhängigkeit oder in einem Solidarisierungsakt mit dieser Unabhängigkeit eine Gefahr sehen.

Darum wird in großangelegten Kampagnen gegen die „Charta 77” vorgegangen, gegen die christlichen Laien-und Priestergruppen, gegen Intellektuelle und Künstler, gegen demokratische, unabhängige und Reformsozialisten, gegen Studenten und Professoren, die sich zu Diskussionen über antike und moderne Philosophie treffen, aber auch gegen Arbeiter, die sich nicht mit der offiziellen Auslegung ihres Rechts auf gewerkschaftliche Vertretung zufrieden geben wollen usw. usw.

Die Polizei, die sich für die Träger der offiziellen Staatsidee ausgibt, versucht ein Klima der Angst im Lande zu erzeugen, was aber nur die Angst des Staates selbst, die Unsicherheit über seine eigene Zukunft unter Beweis stellt.

Unabhängig davon, wie lange sich diese Situation noch hinziehen mag, ist diese Politik schon jetzt zum Scheitern verurteilt. Für die großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sich immer mehr zuspitzen, zeichnen sich keine Lösungen ab. Vielmehr werden diese nur vor sich hergeschoben. Die allgemeine Passivität nähert sich ihrem Maximum.

Wie es weitergehen soll, weiß niemand. Eines ist aber jetzt schon sicher: Veränderungen sind unausbleiblich: kleine und große. In der gegenwärtigen weltpolitischen Situation ist es ungemein schwierig vorauszusehen, wann und wie sich die osteuropäischen Regime ändern werden.

Weder in nächster Zeit noch in fernerer Zukunft können in der Tschechoslowakei oder in anderen totalitären Staaten die Dinge ohne die maßgebliche (sowohl im positiven als auch im negativen Sinne) Beteiligung der in diesen Ländern lebenden, arbeitenden und manchmal auch kämpfenden Menschen in Fluß geraten. Aus diesem Grunde ist jeder noch so kleine Schritt in Richtung eines selbständigen Denkens und Handelns so überaus wichtig.

Die damit verbundenen Risiken rufen ein Gefühl der Hochachtung hervor. Sie appellieren jedoch auch an die Solidarität und das Pflichtbewußtsein der freien Welt, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu helfen, will sie sich auch in Zukunft ihrer Freiheit erfreuen.

Seit der Verhaftung der VONS-Mit-glieder ist bereits ein Jahr vergangen. Was ist uns über ihr weiteres Schicksal bekannt?

Vaclav Havel, Vaclav Benda und Jifi Dienstbier sind im Gefängnis Hefma-nice bei Ostrau und arbeiten in den Wit-kowitzer Eisen- und Hüttenwerken. Sie dürfen nur Bücher aus der Gefängnisbibliothek lesen. Außer den Briefen an die Familie darf keine Zeile geschrieben werden.

Die Briefe werden strengstens kontrolliert. Sie dürfen keine Fremdwörter, Symbole, Zitate aus Büchern oder sonst etwas enthalten, was den Eindruck einer Geheimsprache erwecken könnte.

Petr Uhl ist im Gefängnis Mirov (zuständig für schwere Haftstrafen). Während der Arbeitszeit muß er schwere Lasten von 15 bis 40 kg Gewicht in den zweiten Stock tragen.

Alle schriftlichen Unterlagen wurden ihm weggenommen, darunter auch die mit seiner Verurteilung zusammenhängenden Unterlagen (Gerichtsurteil, Anklageschrift und ähnliches), die Texte der entsprechenden strafgesetzlichen Vorschriften, sämtliche Briefe von seiner Frau - ja sogar die Aufzeichnungen über die Arbeitsnormerfüllung am Arbeitsplatz.

Otta Bednäfovä ist in Opava. Auch ihre Korrespondenz wird strengstens kontrolliert. Es erreichen sie Briefe oft mit 30- bis 80tägiger Verspätung. Sie leidet seit vielen Jahren an einer schweren Krankheit und ihr gegenwärtiger Gesundheitszustand erregt größte Besorgnis.

Ansonsten ist nur bekannt, worüber die inhaftierten VONS-Mitglieder in ihren Briefen an ihre Familien schreiben dürfen. Nebenstehende Auszüge aus diesen Briefen zeigen die ungebrochene Charakterstärke ihrer Verfasser.

(Der Autor, Mitunterzeichner der „Charta 77”, ist Musikwissenschafter und Journalist. Nach behördlichen Schikanen aller Art emigrierte er im August 1978 nach Osterreich und lebt heute mit seiner Familie in Wien. Die Übersetzung seines Artikels aus dem Tschechischen besorgte Roswitha Ripota.)

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