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ZUERST DIE „ERWECKER" DANN DIE NATION

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Nationalistische Haltungen sind historisch relativ jung. Dies gilt trotz der steten Betonung des ehrwürdigen Alters der jeweiligen Nation seitens ihrer Propheten und trotz des Rekurses auf ebenso ehrwürdige Staaten, die als Vorläufer der neuen Nationen interpretiert werden, wie etwa der ansonsten recht blasse Staat des Tomislav als Ur-Kroatien, oder das Karantanien des siebenten Jahrhunderts als Ur-Slowenien. Dies gilt auch trotz der Wirksamkeit älterer Versatzstücke ethnischen Selbstbewußtseins im neuen Nationalbewußtsein. Analog zum älteren „Stamm" entwickelt auch die neue Nation eine „Stammessage", eine Mythologie wie etwa die Französische Revolution für die Franzosen oder diverse Freiheitskämpfe für die Ungarn, häufig einen „heiligen Spitzenahn" (Garibaldi etwa), und immer wieder die Vorstellung, genau hier, am konkreten Platz, immer schon da gewesen zu sein.

Der Bedarf an nationaler Identifikation stellt sich ein, wenn der Prozeß der neuzeitlichen Staatsbildung gewisse Erfolge zeitigt. Hatte man sich mit lästigen und ausbeuterischen Grundherren, Steuerpächtern und Kaufleuten irgendwie abgefunden (nicht immer ohne Widerstand), weil es sie immer schon gegeben harter wie Krankheit und Tod, so waren die Steuer- und Rekrutierungsanforderungen des neu entstehenden Zentralstaates unerhörte Neuerungen, schwere Lasten, denen zunächst keinerlei Vorteil gegenüberstand.

Neue Identifikationsfigur

Natürlich konnten Herrscher ihre Untertanen durch die sinnfällige, prunkvolle Darstellung ihrer Rolle zu beeindrucken versuchen. Aber auf die Dauer war diese Legitimation für die Aufforderung an die Untertanen, die Lasten für den Aufbau eines Staates willig zu tragen und sich mit diesem zu identifizieren, zu dürftig. Jedenfalls betonten dies die aufgeklärten Kritiker des Absolutismus, und die Herrscher begannen langsam, es auch selbst zu glauben. Eine zusätzliche Identifikationsfigur wurde benötigt, die den Massen die Notwendigkeit des Staates vor Augen hielt und genau jene emotionale Sicherheit versprach, die die traditionelle Religion und das traditionelle Herrscherideal einzubüßen im Begriffe waren.

Das war die Denkfigur der Nation. Sie leistete vieles. Konnte sie nicht, wie im Frankreich der Revolution von 1789, die Partizipation der Massen an den politischen Entscheidungen vermitteln? War damit nicht endlich die Identität von Herrschern und Beherrschten verbunden? Bedeutete sie nicht Befreiung von einer fremdbestimmten Herrschaft?

Demokratie und Nation werden schon vor 1848 überall dort zu synonymen Forderungen, wo starre, alte Systeme die Jungen", sich selbst gerade entdeckenden Nationen an ihrer Konstituierung behindern. Diesen Zusammenhang von Nationalismus und Demokratie sollte man auch für die Gegenwart nicht übersehen. Sowohl in der (ehemaligen) Sowjetunion wie in Jugoslawien konnte Demokratie nur realisierbar werden, wenn die Dominanz eines angeblich übernationalen (in Wahrheit aber mit den Interessen einer mehr oder weniger dominanten Nation verbundenen) Systems beseitigt und den Nationen tatsächlich die volle Souveränität

eingeräumt wurde.

In einem gewissen Sinne ist der Zerfall der modernen Imperien die logische Konsequenz aus dem Zerfall der alten: Ist der Nationalismus als die herrschende Idee einmal anerkannt, wird ein neuer Vielvölkerstaat nur mehr in Ausnahmefällen auf allgemeine Akzeptanz stoßen können. Der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie (und des Zarenreiches) und der Zerfall Jugoslawiens (und der Sowjetunion) waren daher nach allen Erfahrungen notwendige Voraussetzungen für eine wirklich demokratische Entwicklung von Tschechen, Slowenen, Slowaken, Esten, Letten, Litauern und so weiter.

Moderne Nationalstaaten haben aber fast alle irgendein Minderheitenproblem: Kulturelle beziehungsweise nationale Grenzen entsprechen nie ganz den staatlichen. Sie fallen daher zuweilen in einer Beziehung hinter ältere Vielvölkerstaaten zurück: Das Prinzip der Gleichheit der „Volksstämme" (wie es im Artikel XIX des österreichischen Staatsgrundgesetzes über die Rechte der Staatsbürger von 1867 verankert war) existiert praktisch nirgends. An seine Stelle treten mehr (wie zur Zeit in Südtirol) oder weniger (wie zur Zeit in Südkärnten) effiziente Schutzbestimmungen für jene bedauernswerten Minderheiten, die nicht in „ihren" Nationalstaaten leben dürfen.

Man sträubt sich innerlich dagegen, es zu akzeptieren, aber die historische Realität läßt sich nicht beugen: Nationalstaatliche Stabilität wurde und wird bis heute immer wieder nur durch die Schaffung noch deutlicherer nationaler Verhältnisse ermöglicht - durch „Bevölkerungsaustausch" (sprich: Vertreibungen), Ausrottungen und last not least durch neue Nationalstaaten. Offenkundig ist das Prinzip des Nationalismus bis heute quicklebendig.

In seinem auf Englisch schon 1983 erschienenen Buch „Nationalismus und Moderne" (deutsch Berlin 1991)

bietet der britische Forscher Ernest Gellner einen interessanten Erklärungsansatz: Der Nationalismus schuf die Nationen. Zuerst existierten die begeisterten „Erwecker", denen es mehr oder weniger rasch gelang, die Mitglieder ihrer Sprachgruppe davon zu überzeugen, daß sie sich allesamt mit einer einzigen, unverwechselbaren Nation identifizieren sollten (und nicht mehr primär mit ihrem Dorf, Tal, Land oder Herrscher).

Klassenkampf läßt warten

Soziale Konflikte, wie sie durch die Industrialisierung herbeigeführt wurden, die kollektive Erfahrung der Unterdrückung und Herabsetzung kulturell als „minderwertig" empfundener Arbeitsuchender in den (anderssprachigen) Metropolen erhöhten die Resonanz dieser „Erwecker". Es waren daher auch die meisten wirklich dramatischen Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts nationale Konflikte, während die Zahl der von Karl Marx prophezeiten verschärften Klassenkämpfe zurückging oder nur dort wuchs, wo soziale und nationale Grenzen zusammenfielen, kurz, wo Ausgebeutete ihre Ausbeuter als national anders identifizieren konnten. Das war schon 1848 der Fall und natürlich beim größten Teil der Be-

freiungskämpfe des 20. Jahrhunderts in der Dritten Welt.

Der Nationalismus ist daher, nach Gellner, nicht als Folge eines bedauerlichen Irrtums der europäischen Geistesentwicklung des späten 18. Jahrhunderts zu sehen. Vielmehr war es nötig, einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft durch eine zentralisierte Staatlichkeit die nötige kulturelle Grundausstattung (Lesen, Schreiben, Rechnen, Verfügung über bestimmte kulturelle Codes) zu sichern. Die moderne industrialisierte Gesellschaft, so Gellner, erfordert relativ großflächige Kulturen, Nätionalkul-turen (meist, aber nicht immer und ausschließlich sprachlich definiert). Ihre grundlegende Vermittlung könne nur von zentralisierten staatlichen Institutionen gewährleistet werden. Nationalkulturen drängten daher auf Umsetzung in Staatlichkeit.

Es könne zwar innerhalb eines Sprachgebietes mehrere Staaten geben, aber tendenziell würden alle Sprachgebiete innerhalb von Vielvölkerstaaten, die sich als Nationen konstituierten (freilich kämen nicht alle dazu), zu eigener Staatlichkeit drängen. Soweit einige Gedankengänge Gellners aphoristisch verkürzt.

Der Ansatz hat den Vorteil, mehrere Phänomene zu erklären: die quasi-

religiöse Energie des Nationalismus genauso wie sein im Modernisierungsprozeß bisher jedenfalls allgemeines Auftreten. Die Schwäche der Erklärung liegt in der Betonung der (versprochenen) Partizipation auf dem kulturellen Feld, während man sich im 19. und im 20. Jahrhundert des Eindrucks nicht erwehren kann, daß es nicht einmal in erster Linie die kulturelle, sondern die politische Partizipation ist, die zur zentralen Forderung des entstehenden Nationalismus wurde. Eine weitere Schwäche liegt darin, daß diese Erklärung etwa mit dem Fall der Habsburgermonarchie schwer in Einklang zu bringen ist, wo es (wenigstens im Westteil) zwischen 1867 und 1914 doch einem staatlichen System ganz gut gelungen ist, ordentliche Bildungsinstanzen für die meisten Sprachen (oder Kulturen) bereitzustellen. Mindestens die Polen und Tschechen haben davon unzweifelhaft profitiert. Viel weniger freilich die Slowenen, Ruthenen und Italiener.

Wird Europa zur Übernation?

Hat der Nationalismus Zukunft? Als allgemeines Prinzip wahrscheinlich ja. Die religiösen Bestandteile werden ihm am stärksten anhaften, wo es nach dem Ende anderer Religionen (wie des Marxismus) neuerdings um umfassende Identifikationen geht. Also überall in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa, in verschiedenen Gebieten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Das bedeutet nicht, daß solche pseudoreligiöse Bestandteile im „entwickelten" Westen fehlen müssen. Jede Rede im amerikanischen Wahlkampf wird uns mühelos vom Gegenteil überzeugen. Aber wir können doch annehmen, daß hier Nationalismus als „Heilslehre" eine abnehmende Rolle spielen wird, weil die nationalen Identitäten selbstverständlich und gesichert erscheinen und in ihrer Alltäglichkeit die besondere Sensation verloren haben.

Ein spannendes Experiment entwickelt sich in Westeuropa: Wird sich, parallel zum neuen Supersystem Europa, ein neuer Nationalismus mit einer einem staatlichen System entsprechenden „Kultur" entwickeln? Oder bleiben die Nationen (und Nationalismen) erhalten? Bis auf weiteres spricht nichts für ein Aufgehen der im 18. und 19. Jahrhundert entstandenen Nationen in einer „Übernation" Europa. Aber vielleicht könnte Europa jenes Regelsystem werden, das die ihrer selbst gewissen Nationen des Kontinents so in sich aufhebt, daß sie ohne Überlebensängste miteinander leben können. Europa - kein gemeinsames „Haus", aber eine gemeinsame „Polis" selbständiger Einheiten.

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