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Zugurlaub

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Ich mache im Zug Urlaub. Nicht Urlaub mit dem Zug, sondern im Zug. Und ich bin wohl nicht der einzige, der es so macht.

Es gibt darüber eine alte Anekdote, die noch vor dem Ersten Weltkrieg entstand: Man fragte den russischen Millionär Brods-kij, warum er immer nur mit dem Personenzug fahre, er könne sich doch den Schnellzug leisten? — „Bin ich denn dumm?“ antwortete der alte Herr, „so zahle ich weniger — und fahre länger!“

Es ist verständlich, daß der gute Geschäftsmann Brodskij etwas für sein gutes Geld haben wollte, und man kann daraus schließen, daß er die Eisenbahnfahrt als Vergnügen ansah.

Vor zwei Jahren hatte ich ein junges Pärchen aus Israel zu Be-

such, das auf einer Europareise war. Die beiden hatten Monatskarten für die Eisenbahn. Tagsüber besichtigten sie verschiedene Städte und schliefen dann im Zug, um das Geld fürs Hotel zu sparen. Die Reiseziele wählten sie nach dem Fahrplan — sie mußten immer eine Nachtreise voneinander entfernt sein.

Manchmal fuhren sie aber auch am Tage. Einmal wollten sie von Zürich nach Freiburg. Unterwegs entdeckten sie, daß der Zug bis Hamburg geht — und entschlossen sich kurzerhand, einmal mehr nach Hamburg zu fahren.

Ich machte mich über das junge Paar lustig, daß sie von den vier Wochen in Europa drei im Zug verbrachten — sie waren jedoch damit zufrieden.

Ich bin nicht so reich wie Brodskij, um mir erlauben zu können, den langsamsten Zug zu wählen — und habe auch nicht so viel Zeit wie die jungen Leute, um nur so zum Vergnügen herumzureisen.

Beruflich bin ich aber oft unterwegs. Natürlich nehme ich das Flugzeug, wenn der Weg weit ist, oder wenn der Termin es verlangt. Zeit ist Geld, und ich gehöre zu der Sorte von Kapitalisten, die außer ihrer Zeit kein anderes Kapital besitzen.

Reisen bis zu fünf-, sechshundert Kilometer mache ich dagegen gerne im Zug. Da mache ich mir nämlich ein paar Stunden Urlaub. Wenn ich ein Eisenbahnabteil für mich allein finde, ist es ein idealer Urlaubsort.

Ich weiß, daß die Bundesbahn-Direktion das ungern hört. Doch es ist bestimmt auch für sie besser, wenn ich im Abteil sitze, als wenn da überhaupt kein Mensch wäre.

Man kann die Jacke und die

Schuhe ausziehen und es sich bequem machen. Es ist wie zu Hause.

Man könnte hier sogar in aller Ruhe arbeiten - etwas studieren, sich Notizen machen und so weiter —, aber man muß nicht arbeiten. Man kann seine Zeit auf einen mittelmäßigen Krimi, Kreuzwort-

rätsel oder Schlaf verschwenden — und alles mit gutem Gewissen, weil man ja bereits eine Arbeit macht; man fährt irgendwohin, geschäftlich.

Andererseits ist man im Zug -wie im Urlaub - von zu Hause weg und von den lieben Nächsten, die einem auf die Nerven gehen. Will man — wie im Urlaub — das Gespräch mit anderen Menschen suchen, geht man in ein bevölkertes Abteil oder in den Speisewagen.

Es gibt freilich im Zug keinen Strand und kein Schwimmbek-ken, keine Barock-Kirchen und keine Tennisplätze. Im Unterschied zu jedem anderen Urlaub muß man hier aber nicht schwimmen oder Sehenswürdigkeiten besichtigen, man hat ja dafür nicht gezahlt — nur für die Fahrt.

Der einzige Nachteil ist, daß man keine Dias und keinen Sonnenbrand mit nach Hause bringt. Aber das kann ja für einen selbst und die Mitmenschen wiederum von Vorteil sein.

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