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Zum guten Willen das gute Wissen

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Personalität, Solidarität, Gemeinwohl, Subsidiarität, Partizipation: Das sind die Säulen der heute hundertjährigen katholischen Soziallehre. Aber erst das Zusammenwirken der Sozialverkündigung der Kirche mit dem Wissen um die konkreten sachlichen Zusammenhänge ergibt die beachtliche Problemlösungskapazität dieses imponierenden Lehrgebäudes.

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Personalität, Solidarität, Gemeinwohl, Subsidiarität, Partizipation: Das sind die Säulen der heute hundertjährigen katholischen Soziallehre. Aber erst das Zusammenwirken der Sozialverkündigung der Kirche mit dem Wissen um die konkreten sachlichen Zusammenhänge ergibt die beachtliche Problemlösungskapazität dieses imponierenden Lehrgebäudes.

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Am 15. Mai gedenkt die römisch-katholische Kirche weltweit der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum" von Leo XIII. über die Lage der Werktätigen im Jahre 1891. Darin wird heute allgemein der Beginn einer Soziallehre gesehen, die das so wirklichkeitsnahe christliche Menschenbild der Schöpfungs-, der Erbschuld- und der Erlösungslehre in das Zentrum der kirchlichen Sozialverkündigung stellt.

Aus dieser aus Glauben und Vernunft abgeleiteten Sicht werden heute folgende „Prinzipien" als wesentlichste Säulen dieser Konzeption gesehen: Nach dem Personalprinzip ist der einzelne Mensch T'äger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen. Die Gesellschaft besteht nur in ihren Gliedern und für ihre Glieder. Das ist das „oberste Prinzip". Das Solidaritätsprinzip besagt, daß jeder Mensch unausweichlich auf andere Menschen angewiesen und daher zum gegenseitigen Beistand verpflichtet ist: von der Familie bis zur Völkergemeinschaft. Aus dem sozialen Wesen des Menschen resultiert auch das Gemeinwohlprinzip. Nach diesem gibt es ein allgemeines Wohl, welches mehr ist als die Summe gleichartiger Individualwohlfahr-ten.

Das Subsidiaritätsprinzip ermöglicht es, zu erkennen, welche gesellschaftliche Institution zur optimalen Lösung des jeweils strittigen sozialen Konfliktes am relativ geeignetsten

ist, je näher dem Betroffenen, desto erfolgversprechender. Viele sehen heute im Prinzip der Partizipation, das heißt im Mitwirkungsrecht und in der Mitwirkungspflicht der Betroffenen in Staat, Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft nach den dabei jeweils spezifischen Möglichkeiten ein weiteres kennzeichnendes Element.

Diese „Prinzipien" wurden im Laufe dieser 100 Jahre vom kirchlichen Lehramt herausgearbeitet. Das zeigt, daß die kirchliche Sozial-lehre - wie alle menschliche Erkenntnis - das Ergebnis eines historischen Lernprozesses ist.

Die heute oft erschreckende Uninformiert-heit und Leichtfertigkeit, mit welcher oft gerade bewundernswert sozial Engagierte mit gesellschaftlichen Problemen umgehen, legt es nahe, ein weiteres Grundprinzip deutlich herauszustellen: Der (nur scheinbar so selbstverständliche) Grundsatz, daß man über Probleme kein Urteil fällen und keine Vorschläge machen soll, die man nicht ausreichend versteht. Das heißt, daß neben dem guten Willen auch das gute, ausreichende Wissen unentbehrlich ist.

Das Prinzip der Sachkenntnis

Schon das Rundschreiben „Quadragesimo anno" (1931) hat die „ökonomischen Gesetze" in aller Form anerkannt, „die auf der natürlichen Beschaffenheit der Dinge selber und auf der Natur des menschlichen Leibes und der menschlichen Seele beruhen, das Ausmaß dessen, was die menschliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Wirtschaft unter Aufgebot aller Mittel erreichen kann und was sie nicht erreichen kann" (Artikel 42).

Völlig und ganz akzeptiert hat das Prinzip der ausreichenden Sachkenntnis dann das Zweite Vatikanische Konzil mit der Anerkennung der „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten", die besagt, „daß die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaft ihre eigenen Gesetze und Werte haben". Diese Eigenge-

setzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen („das ihnen eigene Gute") muß der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methoden achten (Gaudium et spes, Artikel 36).

Dieses Prinzip hatten auch die österreichischen Bischöfe vor Augen, wenn sie in ihrem Sozialhirtenbrief vom 15. Mai des Vorjahres feststellten, daß wir angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Verflechtung „auch in der Kirche in Österreich ein zunehmendes Maß an Sachkenntnis und Kompetenz" brauchen (Artikel 128).

Die eingangs herausgestellten Prinzipien sind Folgerungen aus der christlichen Anthropologie. Sie bleiben im Konkreten Leerformeln, wenn sie nicht im aktuellen Anlaßfall durch eine ausreichende Sachkenntnis konkretisiert werden. Erst das Zusammenwirken der traditionellen Sozialverkündigung der Kirche mit dem Wissen um die sachlichen Zusammenhänge, wie es zur Zeit eben verfügbar ist, ergibt die beachtliche Problemlösungskapazität dieses imponierenden Lehrgebäudes.

Die bisher herausgestellten Sozialprinzipien sind heute weit über die Kirche hinaus anerkannt. Das „Prinzip der ausreichenden Informiertheit" ist erstaunlicherweise selbst innerhalb der Kirche noch weithin unbeachtet - in der kirchenamtlichen Lehre wie in der praktischen Verkündigung.

Die „rechte Autonomie der Kulturbereiche" so überzeugend und für die Kirche so revolutionär festgestellt zu haben, wird zurecht zu den epochemachenden Leistungen des Zweiten Vatikanums gerechnet. Sie verdient eine umso nachhaltigere Verkündigung, als die heutige Politik im allgemeinen am häufigsten gegen dieses Prinzip verstößt.

Überall, wo dem guten Willen das gute Wissen fehlt, ist das Gegenteil von „gut" nicht „schlecht", sondern „gut gemeint".

Der Autor ist Nationalbankpräsident a.D. und Mitherausgeber der FURCHE.

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