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Zur Biologie der Humanität

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Nachdem wir von den Zeitaltern des Aberglaubens in jene der Wissenschaft traten und sich Rousseaus Vorschlag, von der Zivilisation in das Paradies zurückzukehren, als undurchführbar erwiesen hatte, bereitete die Aufklärung jenen Siegeszug der Neuzeit vor, der uns glauben machen sollte, die rationale Vernunft sei nun der Schlüssel zur Lösung aller Probleme unserer menschlichen Existenz.

Die Bündnisse von Tüchtigkeit und Macht erklärten das Quantifizierbare mit Logik und Mathematik

Die Wurzeln der Störungen liegen tiefer, als sie bei Symptomkuren meist vermutet werden

als Prüfstein dessen, was als wahr zu gelten hat, denn die Tüchtigen der Technik sahen ihren Erfolg ja längst darin, daß sie sich die „Erde Untertan machten“. So ist die exekutierbare Beherrschung der anorganischen und organischen Schöpfung bislang das Ideal der aufgeklärten Welt geblieben.

Nun hat sich aber allenthalben herumgesprochen, daß trotz dieses freundichen Programmes unsere Welt nicht eben eine der besten geworden ist. Dort, wo man in der Euphorie . des „Machbaren“ von der schier unbegrenzten Manipulierbar-keit des Menschen und seines Milieus überzeugt war, werden heute Grenzen deutlich, die uns in einer leider oft tragischen Weise offenbaren, wo die Belastbarkeit unserer Existenzbedingungen zu Ende geht.

Das daraus folgende Unbehagen wurde in unserer Zeit in zahllosen Schriften artikuliert. Die Symptome reichen von einer irrationalen Verdrossenheit und Ernüchterung bis zur sogenannten Sinnkrise und der Flucht in zweifelhafte Sekten.

Wie jeder Arzt weiß, ist es meist die pathologische Störung eines Systems, welche uns zur Erforschung seines normalen Funktionierens veranlaßt. Es zeigen viele zweifellos pathologische Erscheinungen des „modernen Lebens“, daß die Wurzeln dieser Störungen offenbar tiefer liegen, als sie bei Symptomkuren meist vermutet werden. Es sieht nämlich so aus, als ob manche Faktoren der technokratischen Industriegesellschaft (gleichgültig ob im Osten oder Westen) zu einer fundamentalen Unterminierung und Verleugnung der Systembedingungen unserer Existenz führten, was eine permanente Überbelastung unseres psychischen Apparates zur Folge haben muß.

Wir haben im Taumel des Fortschrittes vergessen, daß wir mit einem Gehirn leben, in das noch immer vorbewußte Denkstrukturen hin-

„Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit haben wir die Chance zur kollektiven kritischen Reflexion und damit zur Abwendung des Schicksals aller Hochkulturen: des Untergangs.“

einwirken, die wir von der Evolution der höheren Wirbeltiere geerbt haben. Daher glaube ich, daß unsere Zeit nichts so nötig hat wie eine theoretische Biologie, welche sich die Aufgabe stellt, die Gesetzlichkeiten natürlichen Werdens zu erforschen und zu erfahren, unter welchen Bedingungen unser Denkapparat entstanden ist und funktionieren kann, welches die Gesetze eines humanen Milieus sind.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, sagt Konrad Lorenz, haben wir die Chance zu einer solchen kollektiven kritischen Reflexion und damit zur Abwendung des

bisherigen Schicksals aller Hochkulturen: des Unterganges.

Es ist vor allem das Verdienst von Konrad Lorenz und Rupert Riedl, mit der biologischen Erforschung der Evolution unseres Denkens begonnen zu haben. Dabei stellt sich nun heraus, daß unsere Vernunft tatsächlich von Verrechnungsmechanismen geleitet wird, die wir mit unseren biologischen Vorfahren gemeinsam haben. Diese Mechanismen sind wie alles in der Evolution als Anpassung an einen begrenzten Bereich der Umwelt entstanden, weshalb sie bei Uberforderung in allen komplexeren Situationen zu falschen Ergebnissen führen.

Ein Beispiel mag dies erläutern: Eine unserer stammesgeschichtlich vererbten Hypothesen läßt uns die Kausalität nur in linearen Wirkungsketten von Ereignissen erwarten, also „wenn A, dann B, wenn B, dann C usw.“ Damit entgeht uns zunächst die Einsicht in alle Rückkoppe-lungskreisläufe, in denen Ursachen und Wirkungen zu einem Netzwerk verbunden sind und jedes Ereignis über Umwege wieder auf seine Ursachen zurückwirkt.

Ein solches System, in dem buch-

stäblich alles mit allem kausal zusammenhängt, finden wir z. B. in jedem Biotop - und die Eingriffe, welche von linearen Ursachenketten ausgehen, sind daher der Grund für unser ökologisches Dilemma. Es ist gewiß erfreulicher, wenn technische Zerstörungspatrouillen aufgehalten werden, wenn ein Volk schon zu einsichtig geworden ist, als daß es sich von einer finanzkräftigen Lobby die angebliche Notwendigkeit eines Kernkraftwerkes aufschwatzen ließe. Aber solange sich nicht ein grundlegender Denkwandel vollzieht, müssen diese Bemühungen an der Peripherie des Problems bleiben.

Mangelnde Einsicht in stammesgeschichtlich vererbte Denk-Disposi-tionen lassen unsere Ratio vor einer ganzen Reihe solcher Fallgruben ungeschützt. So zeigen z. B. alle vorbewußten Denkleistungen eine Tendenz zur Unbelehrbarkeit einmal etablierter Hypothesen; das beginnt

bei den optischen Täuschungen und endet bei der Borniertheit aller Ideologen und ihrer fanatischen „Uberzeugungen“.

Die Grenzen der Belastbarkeit unseres Denkapparates in der heutigen Lebenssituation liegen aber nicht in einem in der Vernunft begründeten Mangel, sondern gerade in einem Nichtgebrauch jener kritischen Reflexion, welche die Leistungsbeschränkungen unseres vorbewußten Denkens überwinden könnte. Die Konsequenzen dieses Nichtgebrauches sind stets kollektiv-pathologische Störungen des Gesamtsystems unseres psychischen Apparates, die sich in der Sozietät und Kultur fortsetzen.

So haben wir es in den Sozialsystemen auf Grund eines primitiven Entweder-Oder-Denkens bisher kaum weitergebracht, als entweder das Individuum auf Kosten der Gesellschaft zu fördern oder die Gesellschaft auf Kosten ihrer Individuen. Dort nämlich, wo die zufällige Tüchtigkeit des einzelnen (gemessen in Kapital mal Macht) zum Schaden für den Artgenossen wird, wo die Maxime gilt, heute mehr zu besitzen als

der Nachbar und morgen mehr als heute, entsteht ebenso die Formel des Bösen wie dort, wo die Freiheit des Individuums permanent unterdrückt und jede Individualität mit Füßen getreten wird, um das unerreichbare Ziel einer utopischen Gesellschaft zu erreichen.

Orwell hat das in seiner „Tierfarm“ vorausgesehen. In beiden Fällen schließt sich ein Teufelskreis von Rückwirkungen und Manipulationen, der zu einem Verlust an Individualität, an Ordnung und Gesetzlichkeit führt, dessen Konsequenz billige Massenordnung und schließlich ein billiger Massenmensch sein muß.

In einem solchen Milieu gedeiht nicht nur die Freude am Häßlichen, in Schlafsilos am Stadtrand und „Urlaubszentren“, sondern auch die Freude an normierter Freizeit, Kleidung, bis zum normierten „Glück“; aber es gedeihen auch die Psychiater

und die psychoanalytischen Behandlungsstellen.

Und da uns unser Denken wieder suggeriert, daß es nur eine wahre Wahrheit geben könne, nur ein „Entweder-Oder“, ist man auch nur noch bereit, jenseits der Bannmeile eiserner Vorhänge über die Anzahl atomarer Sprengköpfe zu verhandeln. Denn'die „Wahrheit“ muß exekutiert werden, genauso unbelehrbar wie die optischen Täuschungen. „Und wir beginnen uns zu fürchten,

In einem solchen Milieu gedeiht nicht nur die Freude am Häßlichen, sondern auch die Freude an normierter Freizeit, Kleidung, normiertem „Glück“

aber wir schämen uns nicht“, sagt Rupert Riedl, in dessen „Strategie der Genesis“ (1976) eine profunde Analyse der Systembedingungen auch der Sozietäten zu finden ist

Ich möchte aber noch eine Systemstörung aus dem kulturellen Bereich erwähnen. Kulturelle Systeme sind deshalb für Störungen am anfälligsten, weil sie die jüngsten und kompliziertesten Produkte dieser Genesis darstellen. Konrad Lorenz hat wiederholt darauf hingewiesen, daß eine Reihe von Krankheiten im System unserer Kultur zu diagnostizieren sind, wobei wiederum das komplexeste Gebilde als erstes ausfällt, und das ist das Schwinden des Wertsystems.

Die kollektive geistige Verunsicherung und Ratlosigkeit unserer Zeit und nicht zuletzt die schon erwähnte Sinnkrise sind die Folgen einer Auflösung allgemein akzeptierter Maßstäbe, an denen sich Leben orientieren kann. Wo es kein Maß gibt, gibt es keinen Vergleich, und wo es keinen Vergleich gibt, gibt es keine Unterschiede, zuerst zwischen Individuen, dann zwischen Gut und Böse. Wo es aber keine Orientierung gibt, gibt es keine Richtung, und ohne Richtung gibt es keinen Sinn.

Die Erforschung der Systembedingungen unseres Werdens zeigt aber, daß sowohl Richtung wie Sinn zu den Gesetzen dieser Schöpfung gehören; sie zeigt aber auch, daß es keine vorgeplante Richtung gibt und daß wir den Sinn unserer Existenz nicht von außen geschenkt bekommen, sondern daß wir selbst diesen Sinn im Einklang mit den Gesetzen natürlichen Werdens zu formulieren und zu finden haben.

Das heißt für unsere heutige Situation, daß wir vielleicht gar nicht unbedingt immer einfacher leben müßten, sondern daß wir viel dringlicher nach Wegen zu suchen haben, menschlicher zu leben. Denn neben der Apotheose von Fortschritt und Vernunft sollten wir nicht vergessen, daß immer noch unser tiefstes Anliegen - und das einzig legitime auf die-

„Das heißt für unsere Situation, daß wir vielleicht gar nicht unbedingt immer einfacher leben müßten, sondern menschlicher.“

ser Welt - eine sinnvolle Existenz ist. Der Weg zu dieser kann aber nur über ein profundes Wissen um die biologischen Bedingungen eines humanen Milieus führen, denn die Verleugnung unserer Vergangenheit hat bisher ebenso böse Konsequenzen gezeigt wie die dumme, mißbräuchliche Berufung auf sie.

Wir haben bislang zuviel Physik gelernt, Um unser Leben zu verändern, nun kommt es darauf an, Biologie zu lernen, um es zu erhalten.

(Der Autor ist Assistent am Institut für Zoologie der Universität Wien)

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