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Zur Kernfamilie gibt es keine Alternative

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Es hat immer wieder Versuche alternativer Familienformen gegeben, die neben den etablierten Formen der heutigen Kernfamilie und der vorindustriellen Großfamilie existent waren. Der Bogen läßt sich von der religiös orientierten Gemeinschaft der Essener in Qumran am Toten Meer bis zu den gefühlsbetonten Hippie-Kommunen der sechziger Jahre, von den israelischen Kibbuzzim bis zu den städtischen Familienkommunen der sechziger und siebziger Jahre spannen.

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Es hat immer wieder Versuche alternativer Familienformen gegeben, die neben den etablierten Formen der heutigen Kernfamilie und der vorindustriellen Großfamilie existent waren. Der Bogen läßt sich von der religiös orientierten Gemeinschaft der Essener in Qumran am Toten Meer bis zu den gefühlsbetonten Hippie-Kommunen der sechziger Jahre, von den israelischen Kibbuzzim bis zu den städtischen Familienkommunen der sechziger und siebziger Jahre spannen.

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Die Motive, alternative Familienformen zu suchen, waren und sind heute noch unterschiedlich: Einige wollten und wollen fundamentale religiöse Zielvorstellungen verwirklichen, anderen ging und geht es darum, neue gesellschaftliche Modelle des Zusammenlebens zu bilden, um durch Beispiel und Anwendung entsprechender Erziehungsmethoden die Gesellschaft zu verändern.

Drittens war und ist die Bedrohung von außen oft ein Motiv, sictf enger zusammenzuschließen, um die Gefahren, denen der einzelne ausgesetzt sein kann, zu minimieren.

Viertens schließlich - und das wird gerade in jüngster Zeit zunehmend als Motiv genannt - wollen Menschen aus ihrer individuellen Isolation heraus, Gruppe und Gemeinschaft erleben . . .

Generell kann gesagt werden, daß die Familie zwischen dem einzelnen Individuum und der Gesellschaft steht. Sie übernimmt als zentrale Institution die Sozialisation des Menschen, d. h. seine Eingliederung in die Gesellschaft. In der Geschichte der Menschheit hat es Familienformen gegeben, die - neben der Aufgabe der Nachwuchsbetreuung - noch andere Funktionen erfüllten.

So beruhte beispielsweise die vorindustrielle Großfamilie auf ökonomischen und sozialen Voraussetzungen: sie war eine Haushaltsgemeinschaft, die durch gemeinsamen Konsum und Herd gekennzeichnet war; eine Versorgungsgemeinschaft für Gesunde, Kranke, Invalide und Alte sowie eine Betriebs- und Produktionsgemeinschaft, bei der keine Trennung zwischen Haushalt und Betrieb vorhanden war.

Diese Form des familiären Zusammenlebens war dadurch gekennzeichnet, daß sie für die einzelnen Familienmitglieder ein stark ausgeprägtes Gefühl der Sicherheit und der emotionalen Geborgenheit, anderseits eine Beschränkung der persönlichen Freiheitsund Entfaltungsmöglichkeiten mit sich brachte.

Die in der Großfamilie herrschende Organisationsstruktur war das Abbild des monarchisch-aristokratischen Organisationssystems: klare Hierarchie, alters- und geschlechtsspezifische Rollen- und Arbeitszuweisung waren die bestimmenden Merkmale.

Mit der Einführung industrieller Produktionsformen wurde Arbeiten zu einer Tätigkeit außer Haus. Der Großteil der Bevölkerung besteht heute aus Arbeitnehmern, deren Lebensform dadurch gekennzeichnet ist, daß sie täglich ihre Familie verlassen und in der Wirtschaft bzw. im öffentlichen Dienst arbeiten. Das dort erworbene Einkommen stellt die materielle Basis der Familie dar.

Mit der Verlagerung der Produktion außer Haus kam es auch zur Ausgliederung anderer Aufgaben: Bildungs- und Erziehungsaufgaben werden in Kindergärten und Schulen besorgt. Spitäler betreuen Kranke, Altersheime pflegen und beschäftigen alte Menschen, Jugendzentren versuchen die Bedürfnisse Jugendlicher abzudecken bzw. zu erfüllen.

Die Kleinfamilie ist Wirklichkeit geworden, sowohl nach Anzahl der Kinder im Haushalt als auch nach Anzahl der in einem Haushalt zusammenlebenden Generationen. Die moderne Familie besteht aus zwei Generationen (Eltern und Kinder) mit zwei bis fünf Menschen . . .

Welche Funktion hat die Familie in unserer Gesellschaft unter Berücksichtigung des beschriebenen sozialen Wandels? Die zentrale Aufgabe besteht nach wie vor darin, Kinder zu zeugen und sie in einem bestimmten Wertesystem zu erziehen (Aufbau einer sozialkulturellen Persönlichkeit). Dies erfordert die Erfüllung elementarer Bedürfnisse, wie

Nahrung, Wohnung, Kleidung sowie dauerhafte und stabile Gefühlsbeziehungen.

Daneben ist die Familie als Ort des täglichen Zusammenlebens zu einer Freizeitgemeinschaft geworden. Die Funktion des psychischen Spannungsausgleichs im Gegensatz zur sach-orientierten. Emotionen eher unterdrückten Berufswelt gewinnt zunehmend an Bedeutung . . .

Der Versuch, erfolgreiche Alternativformen zur Kernfamilie zu entwik-keln, basierte auf religiösen, politischen oder anderen persönlichen Zielvorstellungen. Bereits im 17. Jahrhundert wurden in Nordamerika zahlreiche Siedlungen auf religiöser bzw. sozialistischer Grundlage gegründet, die ihren Höhepunktim 19. Jahrhundert erreichten. Die bekanntesten der etwa 200 Siedlungen mit unterschiedlichen Familienformen waren die Amanas, die Hutteritten, Owenites, Fourierites, Shakers, Rappisten, Moravians, Ica-rians.

Einige dieser Gruppen wollten die Ideale des Urchristentums verwirklichen, andere schlössen sich zusammen, um die Umweltgefahren zu minimieren, wieder andere wollten neue gesellschaftliche Modelle erproben und die Umwelt verändern. Eigentum gab es meist nur in Form des Gemeinschaftseigentums. Die soziale Struktur zeigte sich in drei möglichen Formen: am häufigsten war das Modell der Einzelfamilie, wobei die Kinder - mehr oder weniger - in gemeinschaftlichen Einrichtungen erzogen wurden . . .

Im Mittelpunktsozialisationstheore-tischer Diskussionen stand lange Zeit das Konzept des israelischen Kibbuz. Für viele war es „die einzige vollkommene, integrale, allumfassende Genossenschaft . . ., die in der Welt existiert und ihresgleichen sucht" . . .

Heute leben etwa noch vier Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels im

Kibbuz. Der Zug der jungen Menschen in die Städte ist offensichtlich. Damit ist aber auch in den meisten Fällen eine Hinwendung zur Kernfamilie verbunden.

Neuere Alternativformen zur Kernfamilie in den westlichen Industrieländern nahmen einerseits in Berkeley Ende der 60er Jahre ihren Anfang. Es waren die amerikanischen Hippies, die als „Love Generation" die Vorstellung einer natürlichen Verbundenheit des Menschen propagierten und „die künstlichen Schranken der Kleinfamilien-welt" durchbrachen, um in Solidarität neue Lebensformen experimentell zu gestalten. Daneben spielte bereits die Gesellschaftskritik der Neuen Linken (Marcuse, Laing, Cleaver u. a.) eine nicht unbeträchtliche Rolle: viele Kommunengründungen beriefen sich im theoretischen Unterbau auf Ziele der linken Gesellschaftskritik . . .

Die Erfahrungen, die man mit alternativen Familienformen gewonnen hat, zeigen, daß die meisten dieser Versuche von relativ kurzer Dauer waren. Die zeitliche Dauer ist deshalb ein Aspekt unter dem man die Erfolge kollektiver Wohnformen betrachten kann, weil es offensichtlich ist, daß jemand, der sich in einer Situation wohl fühlt, nicht daran interessiert ist, sie zu verlassen. Nach Korczak betrug bis zum Jahre 1973 der Durchschnittswert für Gruppen neun Monate, für Einzelpersonen (generelle Kollektiverfahrung) 15 Monate. Im Jahr 1978 betrug der Durchschnittswert für Kollektive mit der Mehrzahl der Gründungsmitglieder 18 Monate.

Es bleibt noch eine Dimension unter der allenfalls Erfolge der Alternativformen beurteilt werden können: die gemachten Erfahrungen, die, wenn sie reflektiert werden, im Rahmen eines persönlichkeitsentwickelten Lernprozesses einen entscheidenden Stellenwert haben können.

Wenn diese Erfahrungen dazu dienen, die Identitätsentwicklung zu fördern und eine realistische Sicht des Lebens zu erlangen, in dem die eigenen Möglichkeiten mit den vorhandenen Grenzen (durchaus auch im Sinne einer Realutopie) in einen relativen Einklang gebracht werden können, haben sie ihre positive Bedeutung. Ein Urteil über die tatsächlichen Lernprozesse abzugeben, ist jedoch deshalb nicht möglich, weil keine derartigen gesicherten Untersuchungen und Erfahrungsberichte vorliegen.

Für unsere Themenstellung kann im Sinne einer Zusammenfassung gesagt werden: Es gibt bisher keine gesamtgesellschaftlich praktizierbare Alternative zur Kernfamilie.

Auszug eines Beitrages von Bertram Jäger, Präsident der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Vorarlberg, erschienen in: ASPEKTE ARGUMENTE ALTERNATIVEN. Beiträge zu einer Politik für den selbständigen Menschen. Mit der Herausgabe betraut: Josef Höchtl. Schriftenreihe „Sicherheit und Demokratie", Verlag Richter & Springer. Wien 1980. 408 Seiten, öS 289,-

Dieser neue Sammelband ist gleichsam das Gegenstück zu den „Roten Markierungen". Die FURCHE wird sich damit noch gesondert auseinandersetzen.

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