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Zur Lage der Partei(en)

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Der Austromarxismus war der Versuch eines ganzheitlichen Konzeptes von Theorie und Praxis zugleich. Er stiftete eine Gesinnungsgemeinschaft (als Heimat) mit Wahrheitsanspruch. Heute hat die Sozialdemokratie in Österreich keine visionäre Zukunftsgestaltung. Sie hat die nationale Identität geklärt, die sozialistische nicht. Das Absterben des Sozialismus in den Ländern des realen Sozialismus, etwa in der UdSSR und in China, trägt zur Unsicherheit bei.

Die Sozialdemokratie hat ihre historische und seinerzeit heroische Aufgabe erfüllt: Sie hat den Staat und zum Teil auch die Gesellschaft durch Recht demokratisiert, soziale Sicherheit im Wohlfahrtsstaat durch Großorganistionen durchgesetzt und das Bildungs- und Universitätssystem durch Voraussetzungslosigkeit dem Massenbesuch freigegeben.

Rückblickend kann manfeststel- len, daß von Traditions strömen der Sozialdemokratie vor allem diejenigen mächtig wurden, die den alten vorrepublikanischen Strukturen entsprachen (wie dem Absolutismus, der Obrigkeitsmentalität, dem Zentralismus, dem Etatismus). Es ist die Technik des Einsiedlerkrebses, die sich nicht nur in Österreich im Verhältnis von politischen Kräften und Institutionen durchsetzte.

Nun ist die “Bewegung“ im “Wandel“. Lange in Traditionen und in der politischen Kultur ihres Lagers befangen und daher noch die Mentalität von Opfern und Verfolgten präsentierend, sind jetzt die österreichischen Sozialisten von ihrer großen und widerspruchsvollen Geschichte ins Freie gesetzt.

Dieser “Weg ins Freie“ hat etwas “Gleitendes“ an sich. Man läßt die Dinge laufen, weil man nicht weiß, wohin die Reise geht. Kurz- und mittelfristig ist dies praktisch, langfristig gesehen fehlt es an Politik. Sozialismus wurde zur pragmatischen Gegenwartsaufgabe, politisch das zu realisieren, was Wahlerfolge bringt. Nicht als Klassenpartei und nicht als Weltanschauungspartei wurde die SPÖ zur Erfolgspartei, als linke Volkspartei errang sie Parteierfolg.

Die Entpolitisierung durch Pragmatismus, der zur Konvergenz von Neosozialismus mit Neokonservativismus führen kann, wertet alle Randgruppen und Protestpotentiale auf, die mit mehr oder weniger Moralitätsanspruch fundamentale Glaubenssätze geradezu total vor- und versprechen. Die Repolitisierung des Ganzen durch Randgruppen verunsichert Akteure und Publikum. Solange und soweit aber die “Arbeit der Zuspitzung“ nicht von den Großparteien geleistet wird, muß sie von den kleinen geleistet werden, damit nicht “Windstille“ besteht.

In einer komplexen Welt wird es immer schwieriger und mühsamer,

einfach zu sagen, was man will. Daher verzichten die Akteure der Politik auf die Arbeit der Zuspitzung. Sound biting und Reduktion der Komplexität überlassen sie oft Außenseitern. Sie verlassen sich auf Rituale, die entlasten. Legitimation durch Verfahren macht zumindest die “Arbeit der Zustimmung“ leichter.

Diese technokratische Politik der Rationalität verkennt aber Orien- tierungs-, Sicherheits-, Spannungsund Unterhaltungsbedarf der Wähler. Gerade wer sich der Tradition der Aufklärung verpflichtet fühlt, muß im Zeitalter der Visualisierung und Mediatisierung der Politik sich der Mittel bedienen, die zum Erfolg führen.

Heute ist die Sozialdemokratie keine Bewegung mehr, daher liegt sie im Wandel. Sie hat, wie Leopold Spira feststellt, trotz aller Veränderungen seit vielen Jahrzehnten ihre Grundstruktur bewahrt. Innerlich aber hat sie sich stark verändert, allerdings eher durch Aushöhlung als durch das Heranwachsen neuer Inhalte.

Das Gesetz vom horror vacui, von der Angst vor der Leere, gelte auch in der Politik. Spira meint: “Die Rückerinnerung an die ersten 100 Jahre können diese Leere nicht füllen; die riesigen Dimensionen des auf gelassenen Gasometers, in dem die J ubiläums-Ausstellung unterge bracht war, bringen das symbolisch zum Ausdruck.“

Aber es suchen alle Parteien nach neuen Perspektiven, die ihre Existenz rechtfertigen. 100 Jahre nach Hainfeld “suchen“ die SPÖ wie die KPÖ, aber auch die ÖVP, die FPÖ und die Grünen.

Auf dieser Suche sollten alle Parteien sich die Frage stellen, was sie verbindet und was sie trennt. Das Einende und das Trennende kann mit den Grundwerten und -rechten wie Leben, Freiheit, Eigentum, Gleichheit so diskutiert werden wie anhand der sogenannten Subverfassungen wie Umwelt, Ehe und Familie, Schule, Betriebs- und Arbeitsverfassung, Universitäten und Medien, der Kulturverfassung. Es geht bei dieser Suche um ein neues Verhältnis von Gesellschaft und Staat und um ein neues Verhältnis von Gesellschaft und Natur, um einen neuen Gesellschaftsvertrag.

Alte und neue Freiheiten, alte und neue Selbstverwaltungen, alte und neue Staatsaufgaben und die entsprechenden organisatorischen Konsequenzen gehören diskutiert. Die Diskussion sollte offen und öffentlich geführt werden. Denn die Menschen in diesem Land wollen wissen, wohin die Reise geht.

Der Autor, Professor für Rechtslehre, ist Dritter Präsident des Wiener Landtages.

SOZIALDEMOKRATIE IM WANDEL Von Josef Cap. Jugend & Volk Verlag, Wien 1969-160 Seiten, öS 148,—.

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