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Zur Metaphysik der Stadt

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Was ist eine Stadt? Wie soll sie beschaffen sein? Unsere alten Städte befinden sich in einem Zustand des Umbruchs; neue Wohnsiedlungen und Satellitenstädte entstehen, zuweilen wird die Gründung neuer Städte geplant. Wie kann die Substanz des Urbanen Lebens bewahrt und erneuert werden?

Jede Stadt ist, so scheint es, vor allem ein philosophisches Problem. Es gilt, auch in diesem Fall die beiden Komponenten menschlicher Existenz, das Naturhaft-

Vegetative und das Rational-Vo-luntarische in Einklang zu bringen.

Das naturhaft-vegetative Prinzip verlangt ein behutsames Ausgehen von der bereits vorhandenen kleinen Einheit, das heißt: eine allmähliche Vernetzung der bestehenden Gemeinden, wobei jede dieser Kommunen eine eigene urbane Funktion erhalten und in diese hineinwachsen kann. Es ergibt sich daraus das Bild einer Stadt, die aus einem Urbanen Zentrum und dessen Umgegend besteht, wobei die gewachsene Eigenart dieser Umgegend das Urbane Zentrum formt und beeinflußt und aus diesem neue Impulse erhält.

Die Stadtplanung wird in diesem Sinne vor allem die Relation zwischen Zeit und Raum grundsätzlich zu klären haben. Freiheit bedeutet auch: genügend Zeit zur Ausformung des eigenen Lebensbereichs zur Verfügung haben, und eine Stadt, deren Bürger sich nicht frei fühlen können, ist keine Stadt, sondern eine Wohn- und Verwaltungsmaschine.

Doch wenn es unmenschlich ist, einer zentralen Planung ausgeliefert zu sein, so wäre es genauso unmenschlich, im Zustand des Naturhaft-Vegetativen zu verharren. Ein riesiges Dorf ist auch bei einer Einwohnerzahl von 20.000 oder 30.000 Seelen noch lange keine Stadt. Ein Beispiel beleuchtet die Problematik. Während der Türkenzeit im 16. und 17. Jahrhundert flüchteten in Ungarn die Bewohner vieler kleiner Weiler und Dörfer in die relative Sicherheit größerer ländlicher Gemeinden,und solche Agglomerationen bestanden noch in unserem Jahrhundert, ohne ihre Struktur und ihre Lebensform wesentlich verändert zu haben. Mangels ökonomischer und massenpsychologischer Bewegungskräfte konnte das rational-volun-taristische Prinzip nicht wirksam werden.

Jede Stadt ist ein künstliches, von der Natur klar abgegrenztes Gebilde. Die Eigenart städtischen Lebens besteht ja gerade in der Möglichkeit, jede Minute des Tages in einer von Menschenhand geschaffenen, von lebendiger Vielfalt erfüllten Umgebung zu verbringen. In diesem Sinne ist jede Stadt ein Kunstwerk. In diesem fühlt sich der urbane Mensch zu Hause. Was aber ist für den Städter charakteristisch?

Die Etymologie des Wortes Bürger weist den Weg. Wir haben es mit dem Wortstamm Berg zu tun, mit ver-bergen, mit Burg, mit Ge-borgenheit und nebenher auch mit Bürgschaft. Der Bürger fühlt sich in seiner Stadt geborgen: beschützt nicht nur durch Stadtmauern oder durch die Waffengewalt eines Fürsten oder einer Bürgerwache, sondern auch durch das städtische Gemeinwesen selbst, durch das Bürgerrecht vor allem, durch den religiösen Kult, der ihm gestattet, auf ein

Leben in aller Ewigkeit zu hoffen, durch Handel und Gewerbe, die ihm erlauben, sich während seines irdischen Daseins gegen die Not zu wappnen, durch Schulen, die sein Wissen vermehren, durch Wirtshäuser, die ihm die Möglichkeit der Geselligkeit eröffnen ebenso wie die Zusammenkünfte auf der Agora, dem Forum, der Piazza oder im Kaffeehaus, denn dieses ist nichts anderes als die gegen Wetter geschützte Piazza unserer nördlichen Regionen.

Die Geborgenheit der Stadt erlaubt es dem Bürger, sich in seiner Stadt zu verstecken, sich in seiner Behausung zu verkriechen oder in der Menge der Passanten unterzutauchen. Er hat in seiner Stadt sogar die Freiheit, von den anderen unbehelligt sich selbst zu ruinieren. Will er dann doch wieder zurück in die Welt, findet er an jeder Straßenecke sein Publikum. Vor diesem lohnt es sich, das tägliche Rollenspiel zu üben, Maske und Kostüm zu tragen und sich mit den Mitteln des Exhibitionismus bemerkbar und zugleich unbemerkt zu machen. Zum Publikum gehört er selbst als Beobachter des Treibens oder als Statist eines politischen Geschehens, als Ratgeber oder Büttel der Mächtigen oder als Träumer, der sich einbildet, mit der Hilfe der Strahlungskraft seiner Stadt welterlösende Gedanken zu verbreiten.

Der Bürger fühlt sich in seiner Stadt so sehr geborgen, daß er sich erlauben kann, der unzähmbaren Natur einen Platz einzuräumen: Sie erscheint nicht nur in

Form von Zimmerpflanzen, von Hunden, Katzen und Kanarienvögel, sondern auch in Form von Gärten und von Parks. Für den Bürger bietet die Stadt eine Anhäufung von alltäglichen Abenteuern, die aber nur selten tödlich enden.

Wenn die Stadt nicht dazu da ist, den freien Bürger in die Lage zu versetzen, sein tägliches Abenteuer zu erleben und zugleich geborgen zu sein, ist sie keine wirkliche Stadt. Das heißt, wir haben es nicht nur mit Häusern und Straßen, mit Verkehrsmitteln und Industrieanlagen, sondern — vor allem — mit etwas Unfaßbarem zu tun, das wir, da wir dafür kein besseres Wort finden, Seele nennen wollen. Die vielen Seelen aber vereinen sich zur Metaphysik der Stadt.

Das bedeutet, daß es auch in-diesem Fall nicht um die Quantität, sondern vor allem um die Qualität geht. Jede Lebensqualität gründet sich aber auf die Vielfalt, das heißt: sie bietet die Freiheit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen.

Um das Freiheitsbedürfnis des Urbanen Menschen anzudeuten, genügt es, die Extrempunkte seiner Phantasie - und möglicherweise auch seines Strebens - aufzuzeigen.

Er will einerseits in der Tradition fest verankert sein, andererseits aber eine ganz neue, originelle, von ihm selbst entwickelte Lebensform verwirklichen können. Er will einerseits unter seinen Mitbürgern Geborgenheit finden, andererseits aber mit fremdländischen Besuchern seiner Stadt in Verbindung treten. Er will einerseits seinen Gewohnheiten treu bleiben, andererseits aber in gewissen Fällen den Reiz des Ungewohnten genießen, ohne seine Stadt verlassen zu müssen. Er will sich einerseits daran erfreuen, daß er so ist wie die anderen, andererseits aber die Möglichkeit haben, anders zu sein als die anderen. Das fordert die Freiheit zu Reibereien. Städtisches Leben ist ein Leben in Spannung, und Reibereien erzeugen auch Wärme. Erst wenn es in einer Stadt Cliquen gibt, die einander nicht riechen können, wenn es Gruppen gibt, die einander bekämpfen, wenn sich angesichts des eitlen Treibens der sogenannten Honoratioren rebellische Randgruppen bilden, wird die neue Agglomeration zur Stadt.

Ein Beispiel zeigt das Wesen dieser Vielfalt. Theodor Herzl meinte, der neue jüdische Staat wird als wirklicher Staat nur bestehen können, wenn seine Bewohner nicht ausschließlich aus Pionieren, sondern nebenbei auch aus Taschendieben und leichten Mädchen bestehen.

Das heißt, die Planer von Stadterweiterungen und neuer Städte werden, wenn sie an die Metaphysik der Stadt denken, auch für die Randgruppen genügend Freiraum schaffen müssen: für die spielenden Kinder, für die tobenden Halbwüchsigen, für die Älteren und Alten, für die Einzelgänger. Glück ist freilich nicht machbar, sein Geheimnis scheint aber begreifbar zu sein. Es liegt im empfindsamen Gleichgewicht zwischen Freiheit und Ordnung.

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