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Zur Rettung bereit sein

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Am Heiligen Abend beginnt die Meßliturgie mit den Worten: „Heute sollt ihr es erfahren: Der Herr kommt, um uns zu erlösen, und morgen werdet ihr seine Herrlichkeit schauen." Und im Antwortlied nach der Lesung heißt es: „Morgen wird ausgelöscht die Sünde der Erde, und herrschen wird über uns der Heiland der Welt."

Ist die Weihnachtsliturgie ein heüiges Spiel? Oder ist Weihnachten Wirklichkeit?

Durch fast zweitausend Jahre ist aus dem Heute des Heiligen

Abends das Morgen des Christfestes geworden. Aber wurde die Sünde der Erde ausgelöscht und haben wir die Herrlichkeit Gottes geschaut? Erweist sich Christus auch als Retter angesichts der Situation, in der sich viele Menschen und die gesamte Menschheit heute befinden?

Diese Fragen sind so alt wie das Christentum. Der Retter kommt in den Zeichen der Ohnmacht und Schwäche: „Ihr werdet ein Kind finden, das in Windeln gewickelt in einer Krippe hegt" (-Lk 2,22). Dieser Anfang mit der Geburt im Stall ist bereits ein Hinweis auf das Ende, auf den Tod Jesu am Kreuz.

Von Anfang an erleben wir den Widerspruch: Der Retter ist selbst der Verlassene und Verlorene; einer, der selbst der Rettung bedarf. Jesus, dessen Name bedeutet: „Gott ist Hilfe, Rettung, Heil", erweist sich in einer völlig anderen Weise als Retter, als es die Juden, Heiden und auch Christen immer wieder erwarten.

Er verzichtet auf Macht; auch auf die Macht, die Welt und die Menschen gewaltsam zum Guten zu verändern. Er anerkennt die Freiheit und geht den Weg der Ge-waltlosigkeit, einen Weg, den auch heute viele Christen angesichts der Situation in den Ländern der Dritten Welt nur schwer begreifen.

Die tiefsten Ursachen für die oft so heillose Welt liegen im Herzen des Menschen. Nach den Worten der Weihnachtsliturgie sind dies: Gottlosigkeit, Lieblosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Gesetzlosigkeit. Zustände, die den Menschen seinen Begierden ausliefern und der eigenen und fremden Wülkür preisgeben.

Von diesen Wurzeln des Unheils will Jesus den Menschen befreien. Aber von diesen Fehlhaltungen mit all ihren Konsequenzen kann Jesus nur jene erretten, die sich retten lassen.

So sind schon zur ersten Weihnacht nur Suchende, Menschen der Sehnsucht und der Erwartung, zur Krippe gekommen. Die Satten, die Selbstgenügsamen, die auf ihre Macht Bedachten sind ihr ferngeblieben. Der Evange-

list Johannes schreibt das erschütternde Wort: „Er kam in sein Eigentum, doch die Seinen nahmen ihn nicht auf" (Joh 1,11).

Jesus vermag jeden Menschen zu retten, aber der Erfolg hängt von der freien Entscheidung eines jeden einzelnen ab. Jeder Mensch kann die Erlösung blockieren. Und weil dies so oft geschieht, deswegen hat sich auch die Welt trotz fast zweitausend Jahren Christentum - zumindest auf den ersten Blick - so wenig verändert.

Weihnachten ist darum auch eine Anfrage an die Christen und alle christlichen Kirchen. Wie weit lassen wir Christus in uns wirksam werden? Die weltverändernde und erlösende Kraft christlichen Glaubens hängt wesentlich von der Bereitschaft des Menschen ab, sich selbst verändern und erlösen zu lassen.

Das Weihnachtsfest wird nur deshalb nach zweitausend Jahren noch Jahr für Jahr gefeiert, weil es immer wieder Menschen gab, die in ihrem Leben Christus als Retter erfahren haben. Ohne diese Erfahrung wäre das Fest verkümmert. Und für viele Christen ist auch heute dieses Fest ein Tag, an dem sie erneut Jesus als Retter feiern, ein Tag erneuter Hoffnung und Liebe; und deswegen auch ein Fest der Familie und der Menschlichkeit, ein Fest erfahrener und geschenkter Liebe.

Weihnachten ist auch ein Auftrag. Jene, die durch Jesus Christus Rettung erfahren haben, sollen selbst zu Rettern werden. Wer befreit wird, der soll mithelfen, daß andere ihre Gottferne überwinden, daß sie glauben, hoffen und lieben können, daß sie fähig werden, nach Gottes Ordnung zu leben, um nicht sich selbst, die Mitmenschen und die Natur zu zerstören. Sie sollen auch mithelfen, daß Menschen, deren Leben durch Leid oder Schuld gezeichnet ist, wieder — oder zum ersten Mal — an Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit glauben können.

Gott hat viele Wege, um auch den Menschen unserer Tage das zu schenken, was sie zu einem menschenwürdigen Leben und Sterben brauchen. Trotzdem stimmen die Worte: „Christus hat keine anderen Hände als unsere Hände, um seine Arbeit heute zu tun." Und auch die Kirche mit all ihren Einrichtungen soll in diesem Sinn Werkzeug sein.

Weihnachten gibt uns die Gewißheit, daß ein Morgen kommt, an dem „die Sünde der Erde ausgelöscht wird", und wir „Gottes Herrlichkeit schauen". Dieses Morgen beginnt hier und jetzt, wo immer sich Menschen von Jesus Christus retten lassen, wo sie einander erlösend begegnen und befreiend wirken. Jeder kann und soll mitwirken, daß dieses Morgen anbricht: im eigenen Leben, in der nächsten Umgebung, in unserer Heimat, in den Ländern des Hungers und der Unterdrückung.

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