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Zur Wiederkehr der Geschichte

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Was wir heute in Ost und West erleben, ist vor allem eine Rebellion der Seelen. Sie steht in mannigfaltiger Hinsicht in den Traditionen des Kontinents. Europäer sind es, die sich veranlaßt sehen, den Gleichklang zwischen der menschlichen Natur und den Lebensbedingungen wiederherzustellen; ihre Sehnsucht folgt ganz bestimmten Denkmodellen und tief sitzenden Dispositionen der Empfindung. Ihr Vorhandensein in unserem Wesen ist kein Anlaß, stolz oder überheblich zu sein, doch gibt es keinen vernünftigen Grund, die beglückende Kraft und verfeinerte Bildhaftigkeit einer Kultur zu verleugnen, die uns als Erinnerung und Ahnung erfüllt. In diesem Sinne wird erst in unseren Tagen jener Sturz in die Seelenlosig-keit des terroristischen Etatismus endlich überwunden.

Die Eigenart des europäischen Denkens und Fühlens ist - im Unterschied zum magisch-mystischen Weltbild anderer Kulturen - historisch. Der Glaube an das Herandämmem eines Jüngsten Tages der universellen Gerechtigkeit gab dem Zeitgefühl eine vorstellbare Richtung. Durch die mosaische Hoffnung auf die Ankunft des Erlösers gewann die Historie die uns vertraute lineare Struktur. Vor zweitausend Jahren haben wir durch die Offenbarung den widersprüchlichen geschichtlichen Prozeß als Heilswerk Gottes erkannt, als mögliche Verwirklichung jener ethischen Werte, die dem Leben innewohnen - freilich auch als Verpflichtung zur Mission. Damit wurde eine ambivalente Leidenschaft europäischer Wesensart wieder aufgegriffen und verstärkt.

(...)In den geistigen Schüben, Facetten, Wegen und Umwegen der Erneuerung ist europäische Wesenart am Werk. Die Rückkehr - oder, besser gesagt, der Vorstoß - zur eigenen Geschichte bestimmt Richtung und Eigenart dieser Erneuerung. Der Sinn für Historie tritt nicht nur als Rückbesinnung auf Vergangenes hervor, sondern als Bewußtsein der Eigenart: die schreckliche und unbezwingbare Demokratie der,Toten, die man nicht mundtot machen kann, so nannte es

Carlyle, entfaltet ihre Wirkung; die früheren Generationen melden sich zu Wort, machen sich durch Taten, die heutiges Leben prägen, bemerkbar. Wieder einmal zeigt sich, daß die Verallgemeinerung einer abstrakten, allein durch die Ratio geschaffenen Begrifflichkeit das volle Leben - und in diesem die ethnische Eigenart der Volksgruppen - nicht zu fassen vermögen. Nachhaltige Wirkungen formen Gegenwart, mitunter auch Zukünftiges. In diesem Fall sind es die ältesten Adelsdemokratien Ost- und Mitteleuropas, Polen und Ungarn, die ihre Rückkehr zur Wirklichkeit so würdig zu vollziehen trachten, daß wir das Festhalten an die Freiheitsrechte des 13. Jahrhunderts in der geradezu archaischen Kraft der Argumentation fühlen, in der Wortwahl auch etymologisch nachweisen können. (...)

Europäisch ist die Art, an der Grenze zwischen Erkenntnis und Hoffnung nicht auf eine allgemeine Änderung der Verhältnisse, sondern auf Ordnungsprinzipien hinzuzielen, die sich aus der Metamorphose selbst ergeben würden. Auffallend erscheint in diesem Punkt, daß sich das Denken - im Gegensatz zu den Denkformen mancher anderer Kulturen - mit dem Negativen und dem Formlosen nicht zufriedenzugeben vermag, sondern feste, sich in ihrem Wachsen freilich verändernde Strukturen bildet. Deshalb sind die gegenwärtigen Prozesse durch die herkömmlichen Begriffe nicht restlos faßbar: In ihnen steckt ein Element des Neuen, das sich zuweilen aus uralter Erfahrung nährt.

Auszug aus der Rede G. Sebestyens „Europa -Szenen einer Erneuerung”, gehalten am 14. November 1989 in Mailand. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Styria Verlages.

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