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Zuruck zum Jahr 1945

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Bei den zahlreichen Sitzungen und Marathonkonferenzen, die seit Jahren von der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft abgehalten werden, gibt es ein Tabu, das von keinem Würdenträger der neun Staaten ohne Hintergedanken zur Diskussion gestellt wird. Es handelt sich dabei um ein Problem, das im höchsten Ausmaß die Zukunft der Länder betrifft, welche in der EG mehr oder weniger gut zusammenarbeiten. Gegenüber der sowjetischen Weltmacht, die in unerhörter Weise aufgerüstet hat und wahrscheinlich in der Gegenwart die größte Militärmacht der Geschichte repräsentiert, haben es sich die europäischen Regierungen sehr einfach gemacht. Sie betrieben eine Vogel-Strauß-Politik und glaubten, etwas naiv, die USA werde auf ewige Zeiten Divisionen in Europa unterhalten und automatisch für den freien Westen den Atomschutz übernehmen.

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Bei den zahlreichen Sitzungen und Marathonkonferenzen, die seit Jahren von der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft abgehalten werden, gibt es ein Tabu, das von keinem Würdenträger der neun Staaten ohne Hintergedanken zur Diskussion gestellt wird. Es handelt sich dabei um ein Problem, das im höchsten Ausmaß die Zukunft der Länder betrifft, welche in der EG mehr oder weniger gut zusammenarbeiten. Gegenüber der sowjetischen Weltmacht, die in unerhörter Weise aufgerüstet hat und wahrscheinlich in der Gegenwart die größte Militärmacht der Geschichte repräsentiert, haben es sich die europäischen Regierungen sehr einfach gemacht. Sie betrieben eine Vogel-Strauß-Politik und glaubten, etwas naiv, die USA werde auf ewige Zeiten Divisionen in Europa unterhalten und automatisch für den freien Westen den Atomschutz übernehmen.

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Die Väter eines integrierten Europa, und hier wieder besonders Konrad Adenauer und Rober Schu-man, hatten dieses ernste Problem bald erkannt und waren nüchtern genug, Vorurteile ihrer eigenen Nation zu brechen und das Konzept einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu erarbeiten. Es ist bekannt, wie sehr sich der erste Bundeskanzler nach 1945 um dieses Projekt einer europäischen Armee bemüht hat. Der „große Alte“ wollte unter keinen Umständen einer Renaissance des deutschen Militarismus zustimmen und daher kam ihm der Plan sehr gelegen, bei voller Gleichberechtigung die deutschen Einheiten in ein größeres Netz der europäisch-amerikanischen Defensivstreitkräfte zu integrieren. Der damalige französische Außenminister, Robert Schuman, beging bei allem politischen Mut einen Fehler, als er den Vertrag bezüglich der europäischen Verteidigungsgemeinschaft nicht sofort seinem Parlament zur Ratifizierung vorlegte. So bildete sich in Paris eine höchst inkohärente Front der Gegner dieser EVG, die von den orthodoxen Gaullisten über die extremen Nationalisten der Rechten bis zu den Kommunisten reichte. In einer dramatischen Sitzung lehnte schließlich das französische Parlament die Schaffung einer europäischen Armee ab. Der damalige Ministerpräsident Mendes-France, der über ein großes persönliches Prestige verfügte, unternahm nichts, um diesen — wie es ironisch hieß — „Kadaver im Kleiderschrank“ zu retten.

Nachdem also die verheißungsvollen Anfänge einer engen militärischen Zusammenarbeit vernichtet waren, wurde die Bundesrepublik in die NATO aufgenommen und ihr die Gründung einer eigenen Armee zugebilligt. Der Aufbau der Bundeswehr geschah diskret, und die öffentliche Meinung des Westens nahm kaum zur Kenntnis, daß diese neue deutsche Armee bald zur bestausgerüsteten und diszipliniertesten Truppe des westlichen Verteidigungsbündnisses geworden war.

Die V. Republik dagegen hatte die klassische Form der Streitkräfte eher vernachlässigt und alle Energie auf den Ausbau einer autonomen Atomstreitmacht verlegt. Da General de Gaulle sich nicht durchsetzen konnte, als er verlangte, Frankreich müsse gemeinsam mit den USA und Großbritannien eine bevorzugte Stellung innerhalb des Nordatianti-schen Verteidigungsbündnisses erhalten, verließ die V. Republik die integrierten Stäbe, blieb aber der politischen Organisation der NATO treu. Obwohl die V. Republik nicht bereit war, den Amerikanern auf dem nationalen Hoheitsgebiet Stützpunkte zu überlassen, verteidigte Paris ständig die Notwendigkeit einer permanenten Stationierung der US-Truppen in Europa. Unter Giscard d'Estaing näherte sich Fran-reich nun zusehends auch auf dem militärischen Sektor den einstigen Verbündeten, und zahlreiche technische Abkommen, wie die Beteiligung an gemeinsamen Manövern, wurden geschlossen. Darüber hinaus hatte Giscard d'Estaing vom Tag seiner Amtsübernahme an versprochen, er werde das Problem der nationalen Verteidigung überprüfen und ihm moderne Akzente verleihen. Ende April wurde daher dem französischen Parlament ein Gesetz vorgelegt, welches bis zum Jahr 1982 die militärischen Konzepte der Regierung fixiert. Eingangs muß gesagt werden, daß der jetzige Staatspräsident wohl Retuschen an den gaullistischen Verteidigungsplänen vorgenommen, aber keine grundlegenden Reformen befürwortet hat. Weiterhin wird der Atomstreitmacht Priorität eingeräumt, ohne daß ihr jedoch dieselbe Bedeutung zugemessen würde, wie dies nach dem Amtsantritt General de Gaulies der Fall war.

Auch die französischen Militärs und Politiker haben inzwischen entdeckt, daß die Bundeswehr zu einem der wichtigsten Elemente der westeuropäischen Verteidigung geworden ist. Um ein Gleichgewicht herzustellen, will daher Giscard d'Estaing einen weiteren Schwerpunkt der Defensive bei den klassischen Armeeteilen Heer, Luftwaffe und. Marine setzen. In diesem Zusammenhang sei seine entschiedene Ablehnung registriert, das Prinzip der Volksarmee aufzugeben und ein Söldnerheer zu bilden. Aus politischen wie finanziellen Gründen wäre es nicht angebracht, die Verteidigung einer Berufsarmee anzuvertrauen. Trotzdem glauben zahlreiche Kritiker in Paris, daß der Zug zur Berufsarmee nicht aufzuhalten sei. (Einer Berufsarmee, die flankiert wird von gutausgebildeten Milizeinheiten.) Frankreich übernimmt schwere finanzielle Verpflichtungen, um die Armee mit den modernsten Waffen auszustatten. So sieht das Militärbudget 1977 58.000 Millionen Francs vor, was 1982 auf 114.575 Millionen erhöht werden soll. Damit wächst das Budget für die Armee schneller als etwa jenes für das Unterrichtswesen. Die Sprecher der Majorität sind sich im klaren darüber, daß Frankreich weiterhin mit der Unterstützung der USA rechnen und die im Vorfeld liegende deutsche Bundeswehr zur Mitarbeit auffordern muß. Allerdings vertreten die Alt-Gaullisten immer noch den Standpunkt einer streng nationalen Verteidigung und wollen von einer Integrierung, beschränkt auf den westeuropäischen Raum, nichts wissen. Aber wie lange kann sich Europa noch den Luxus leisten, kleinere Heere zu unterhalten, die, im einzelnen gesehen, kaum in der Lage sind, den konzentrierten Angriffen einer Weltmacht standzuhalten? So erscheint es angebracht zu sein, dort wieder anzuknüpfen, wo man 1954 geendet hat und die Bildung einer europäischen Armee ins Auge zu fassen. Aber wer wagt es, den ersten Baustein für eine europäische Armee zu legen?

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