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Zurück in die Höhlen?

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Angeblich mußte der Mensch , erst von den Bäumen klet- tern, um zivilisiert zu werden. Aber bevor es mit ihm per Fahrstuhl bis ins hundertste Wolkenkratzer- Stockwerk so richtig aufwärts ging, war er auch längere Zeit Höhlenbe- wohner. Jedenfalls dort, wo es Höhlen gab.

Nun ist von japanischen Archi- tekten und Stadtplanern eine teil- weise Rückkehr in die Höhlen an- gesagt. Sie entwerfen die erste unterirdische Satellitenstadt mit Wohn- und Arbeitsbereichen, Ein- kaufszentren, Infrastrukturen und Freizeiteinrichtungen.

Auch der Schweizer Architekt Pierre Zoelly ist Vorkämpfer der Terratektur, wie er das Bauen in die Tiefe nennt, und so heißt auch sein kürzlich erschienenes Buch. Es handelt vom „Einstieg in die unter- irdische Architektur" (Birkhäuser Verlag, Basel 1989,240 Seiten, vie- le Bilder, öS 853,-).

Hauptmotiv für das japanische Projekt: Bauland ist in den ver- kehrsgünstig gelegenen Landestei- len kaum mehr verfügbar. Baut man in die Tiefe, bleibt die Erdoberflä- che für andere Nutzungen verfüg- bar.

Die Propagandisten des Unter- die-Erde-Gehens haben eine ganze Liste weiterer Argumente auf La- ger: Die Energie zur Erzeugung von Wärme könne fast gänzlich einge- spart werden, denn erstens werde es unter der Erde sowieso von Me- ter zu Meter wärmer, zweitens würde durch die Isolationswirkung des Bodens und das Fehlen von Fenstern wenig Wärme nach außen abgestrahlt. Probleme der Belüf- tung und Klimatisierung seien ohne große Schwierigkeiten lösbar, da- für sei weniger Energie erforder- lich als droben für die Beheizung.

Unterirdische Städte könnten vor Gefahren wie einem neuen Tscher- nobyl geschützt, durch zentrale Filteranlagen mit sauberer Luft versorgt und die Abluft könnte zum Besten der Umwelt zentral gerei- higt werden (von den bei den teuren Erdarbeiten anfallenden Gewinnen ist weniger die Rede.)

Das Argument, der Mensch brau- che Sonnenlicht und verkümmere ohne Kontakt mit der Natur, wi- schen die Befürworter des kollekti- ven Maulwurfdaseins mit dem Hinweis vom Tisch, schon jetzt würden wir zu Hunderttausenden bei künstlichem Licht in Großraum- büros arbeiten. Unterirdische Städ- te würden die Erhaltung oberirdi- scher Erholungsräume erleichtern, hätten überdies nur eine ergänzen- de Funktion, es werde also stets auch oberirdische Wohn- und Ar- beitsmöglichkeiten geben und au- ßerdem hätten Menschen nicht nur in prähistorischen Zeiten in Höh- len gewohnt, sondern auch viele Hochkulturen Kult- und andere Bauwerke unterirdisch errichtet.

Während das unterirdische Bau- en in Japan Teil futuristischer Stadt- planung darstellt, ist es für Pierre Zoelly Ausdrucksmittel einer Bau- kunst mit uralter Tradition und tiefen psychologischen Wurzeln.

Er macht seinen Lesern den im Lauf vieler Jahrhunderte unter verschiedensten Bedingungen ent- wickelten Formenreichtum unter- irdischen Bauens anhand von rei- chem Bildmaterial bewußt und geht der Frage nach, warum viele neue, ganz oder teilweise in die Erde versenkte Bauten, seine eigenen und die anderer Architekten, so positiv aufgenommen wurden. Sie entspre- chen, meint er, nicht zuletzt einem verbreiteten Bedürfnis nach Rück- zug: „Psycho-pathologisch könnte man sagen: der vom sinnlosen Her- umrennen müde Mensch will zu- rück in den Mutterschoß, und der vom sinnlosen Bauen müde Archi- tekt will zurück in die Muttererde."

Beispiele für unterirdisches Bau- en gibt es fast auf der ganzen Welt. In Wien gleich neben der Stephans- kirche die vor Jahrhunderten zuge- schüttete und im Zusammenhang mit den U-Bahn-Bauten ausge- schaufelte und wieder zugänglich gemachte Barbara-Kapelle.

Oder den Treppenbrunnen von Ahmedabad, Indien: Der Abgang durch einen fünfeinhalb Meter breiten Erdschlitz weitet sich auf dramatische Weise zu einer drei- schiff igen, insgesamt 65 Meter lan- gen Treppe, die in 18 Meter Tiefe im Wasser endet. Oder den im ersten Jahrhundert vor Christus erbau- ten, später in ein Bad umgewandel- ten Merkurtempel in Baja bei Nea- pel, der durch ein kreisrundes Loch am Kuppelscheitel Tageslicht er- hält. Oder die atemberaubenden, senkrecht in den Fels geschnitte- nen Felsenkirchen von Lalibala in Äthiopien.

Von Zoelly selbst stammen vor allem Schweizer Museumsbauten, darunter das internationale Uhren- museum von La Chaux-de-Fonds, von dem nur wenige Teile aus dem Parkgelände ragen, das drei Stock- werke tiefe Rotkreuz-Museum in Genf und ein unterirdischer Erwei- terungsbau des Zürcher Rietberg- Museums einschließlich Verbin- dungsgang mit Ausstellungsvitri- nen, der schlangenförmige Umwe- ge um die zu schützenden Baum- wurzeln macht.

Während sich Zoelly sehr wohl der psychischen Faktoren bewußt ist, die einem dauernden Leben unter Tag entgegenstehen und je- den Gigantismus ablehnt, sind unterirdische Städte zwar Zu- kunftsvision, aber eine von jener Sorte, die dazu neigt, unter den Händen eines effizienten Manage- ments unversehens Gestalt anzu- nehmen und Realität zu werden.

Die kulturelle Evolution, das heißt die Anpassung des Menschen an die von ihm selbst geschaffenen Lebensbedingungen, nimmt wenig Rücksicht auf die Wünsche des ein- zelnen. So bizarr uns eine solche Entwicklung heute auch erschei- nen mag - niemand kann ausschlie- ßen, daß sich der Mensch tatsäch- lich selbst unter die Erde treibt, wenn er beispielsweise nicht fähig oder bereit ist, auf den zunehmen- den Einsatz von Kernenergie zu ver- zichten und die damit verbundenen Risiken in Kauf nimmt. Oder wenn die Verunreinigung der Luft steigt, die Ozonhülle zugrunde geht und der Aufenthalt im Freien immer ungesünder wird. Oder wenn die Klimakatastrophe tatsächlich ein-

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