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Nur wenige der rund zwanzig Spielfilme, die pro Jahr in Ungarn hergestellt werden, können sich auf dem Weltmarkt durchsetzen. Bei den übrigen mangelt es nicht an Qualität. Aber sie kommen kaum an bei einem Publikum, das die ungarischen Verhältnisse, die Probleme des heutigen Lebens, die sozialen Verhältnisse nicht kennt. Daher ist es umso verdienstvoller, daß der Staat Filme für eine Minderheit subven-tioniert, die sich überdies oft recht kritisch mit dem heutigen Ungarn auseinandersetzen.

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Nur wenige der rund zwanzig Spielfilme, die pro Jahr in Ungarn hergestellt werden, können sich auf dem Weltmarkt durchsetzen. Bei den übrigen mangelt es nicht an Qualität. Aber sie kommen kaum an bei einem Publikum, das die ungarischen Verhältnisse, die Probleme des heutigen Lebens, die sozialen Verhältnisse nicht kennt. Daher ist es umso verdienstvoller, daß der Staat Filme für eine Minderheit subven-tioniert, die sich überdies oft recht kritisch mit dem heutigen Ungarn auseinandersetzen.

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Dem ungarischen Filmschöpfer geht es jetzt nicht mehr um den Kampf einer Klasse oder der Nation. Er geht dem Schicksal des einzelnen Menschen nach, zeigt ihn in meist aussichtslosem Kampf mit einer anonymen Übermacht Er fragt aber auch, was der Gebildete tun kann, um dem einfachen Menschen zu helfen, sich in den Mächten - etwa der Bürokratie -zurechtzufinden. Film als Versuch einer von der intellektuellen Schicht kommenden Aufklärung.

Zoltän Fäbri zum Beispiel zeichnet in seinem letzten Werk „Die Ungarn“ eine Gruppe von Landarbeitern, die während des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat verlassen haben und sich in Deutschland als Gastarbeiter verdingen. Sie hoffen, dadurch mehr Geld zu verdienen und dem harten Wehrdienst zu entgehen. Das gelingt auch. Doch in Deutschland erleben sie die Schrecken des Krieges: französische, russische Kriegsgefangene, polnische Zwangsarbeiterinnen, Tieffliegerangriffe. Resigniert kehren, sie in die Heimat zurück, wo der Einberufungsbefehl schon wartet. Sie müssen in den Krieg ziehen wie ihre Vorfahren und werden für Ziele geopfert, die ihnen fremd bleiben.

Die Zeit nach dem Krieg, nach der Zerstörung, nach der Zerschlagung, behandelt Sändor Simo in seinem Film „Die glücklichen Jahre meines Vaters“. Ein ironischer, fast zynischer Titel. Dieser Vater, ein Chemiker, beteiligt sich nach dem Kriegsende fast enthusiastisch am Wiederaufbau „seiner“ Fabrik. Durch eine schwere Krankheit verliert er aber seinen Posten. Da erhält er die Chance, eine kleine Fabrik selbständig zu übernehmen, bringt sie nicht weniger enthusiastisch in Gang, gerät aber in den Strudel der Verstaatlichungen, verstößt sogar gegen neue Wirtschaftsgesetze und wird eingesperrt Gesetze, die gegen die Kapitalisten gerichtet waren, treffen den kleinen Mann, der ohnehin mit seiner Produktionskraft keine ausbeuterischen Absichten hegt.

Imre Mihälfy schildert in „Gemeinsame Schuld“ das Schicksal eines Bauern, dem die revolutionären Tage im Herbst 1956 zum Verhängnis werden. Er hat nämlich zwei junge Männer

im Stall beherbergt. Am nächsten Morgen findet er nur noch einen von ihnen - tot. In seiner Verwirrung wirft er die Leiche in die Donau. Sie wird aber ans Ufer angeschwemmt Der Mörder stellt sich - vom schlechten Gewissen geplagt. Er hatte aus Ungarn flüchten, in den Westen emigrieren wollen. Der Bauer ist so unverschuldet in eine mißliche Lage gekommen. Er hätte den Mord anzeigen sollen. Aber wie und bei wem, da man doch nicht wußte, wer die Macht übernehmen würde? Noch dazu galt der Bauer im Dorf als kapitalistischer Sympathisant er wollte der Produktionsgemeinschaft nicht beitreten. Und trotzdem - im Film wird der „opportunistische“ Bauer nicht verurteilt. Imre Mihälfy versucht, die Zwänglichkeit seiner Lage aufzuzeigen, für sein Denken, für seine Ängste Verständnis zu zeigen. Ein versöhnlicher Film? Oder einfach das Porträt eines Mannes, der von den politischen Ereignissen und Machtkämpfen überrollt und überfordert wird?

Die kleinen Leute, die Leidtragenden, stehen im Schatten der großen Zeiten. Vom „Licht des Ruhmes umflossen“ sind die Helden und Märtyrer. Ein solcher Märtyrer war Gajzägö, der 1956 bei der Niederschlagung des Aufstandes umkam. Seine Witwe verehrt ihn wie einen Heiligen und hat in der kleinen Wohnung eine Art Gedenkraum eingerichtet sodaß ihr Sohn und dessen junge Frau sich mit einer winzigen Kammer begnügen müssen. Der Schatten des toten Vaters lastet auf ihnen. Als sie in das Städtchen kommen, wo der Vater schon während des Krieges als Widerstandskämpfer gewirkt hat, müssen sie entdecken, daß er damals einen kleinen Beamten erschossen hat - ohne Not „kaltblütig“, wie Augenzeugen berichten. Der Sohn ist beinahe erleichtert, daß sein „großer“ Vater doch nur ein Mensch war. Doch der Film „Legato“ von Istvän Gäal, der dieses Thema umgesetzt hat, will nicht in erster Linie die Fragwürdigkeit des Heldentums aufzeigen. Er befaßt sich mit Menschen, die mit dem Schatten der Erinnerungen leben müssen. Da sind zum Beispiel zwei alte Frauen, bei denen das junge Paar zufällig Quartier findet, in einer alten, leicht verwahrlosten Villa. Beide waren seinerzeit in Gajzägö verliebt. Sie verehren ihn immer noch, träumend, ohne

Bezug zur Wirklichkeit, sind einsam, Schatten ihrer selbst Die eine Schwester ist recht wunderlich, ja kindisch, die andere Alkoholikerin. Um ihr bröckelndes Haus, den langsam verrottenden Garten verändert sich die Welt, geht das Leben weiter, während die Frauen scheinbar unberührt weiterträumen. Gäal hat die Menschen, die gewissermaßen am Rande des Lebens existieren, mit viel Verständnis gezeichnet Gerade in seinem Film wird besonders deutlich, daß die ungarischen Regisseure die einzelnen Menschen, Vor allem diese Randexistenzen, nicht mit objektivierender Distanz analysieren, auch nicht mit Ironie bloßstellen wollen, sondern daß sie

ihnen mit Liebe entgegentreten. Das kann man auch an Päl Schiffers „Gyuri“ erkennen, der dokumentarisch die Probleme eines jungen Zigeuners visualisiert, der sich in die moderne Industriegesellschaft zu integrieren hat.

Die ungarischen Filmleute haben viele Möglichkeiten, gehen viele Wege, um aktuelle Probleme bewußt zu machen, zu deren Lösung beizutragen. Befähigt sind sie dazu nicht nur durch ihr Talent und die staatliche Förderung. Das Gefühl der Verantwortung für die Allgemeinheit hat bei ungäri-sehen Intellektuellen, besonders bei den Schriftstellern, eine lange Tradition. Wesentlichen Einfluß auf die heu-

tigen Fümschöpfer haben ohne Zweifel besonders zwei Autoren: Gyula II-lyes begründete mit seinem „Pußtavolk“ jene Tradition der „Soziogra-phie“, einer Gattung, die zwischen Belletristik und Dokumentation angesiedelt werden kann, die auch heute von jüngeren Autoren weiter gepflegt und entwickelt wird und mitunter Anstoß erregt. Sie wurde vom Film aufgegriffen und in eine neue ästhetische Form gebracht Läszlö Nemeth zum Beispiel predigte in vielen seiner Werke die Hinwendung zum Einzelnen, zum Benachteiligten. Sein „Qüalitäts-Sozia-lismus“ hat viel Ähnlichkeit mit der Nächstenliebe des Christentums.

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