6911536-1981_11_01.jpg
Digital In Arbeit

Zurück zur Vernunft

19451960198020002020

Der Linzer Alt-Bürgermeister,einer der großen alten Männer der österreichischen Sozialdemokratie, feierte am 11. März seinen 90. Geburtstag. In einer am 5. März ausgestrahlten Fernsehsendung, .Erlebte Geschichte" sagte der Jubilar vieles, was festgehalten zu werden verdient. Wir zitieren auszugsweise:

19451960198020002020

Der Linzer Alt-Bürgermeister,einer der großen alten Männer der österreichischen Sozialdemokratie, feierte am 11. März seinen 90. Geburtstag. In einer am 5. März ausgestrahlten Fernsehsendung, .Erlebte Geschichte" sagte der Jubilar vieles, was festgehalten zu werden verdient. Wir zitieren auszugsweise:

Werbung
Werbung
Werbung

Die Lehre aus der Geschichte: Politische Orthodoxie ist ein Übel und führt zu folgenschwerem Starrsinn. Zivile Aufrüstung ist ein Unglück, an dessen Ende meist der Bürgerkrieg steht.

Daher gehe man nicht auseinander, sondern miteinander, besonders in ernsten und heiklen Zeitläufen. Nimmermehr ein sich hemmungslos zuspitzender Bruderzwist im Hause Österreich! Und merk’s, Wien: Mit einer etwa einprozentigen Mehrheit darf man nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen!

Ich komme zum Hauptproblem Schule und Gesellschaft. Heute ist man nur zu leicht geneigt, über die Schule von gestern oder gar von vorgestern geringschätzig zu urteilen und den Stab zu brechen. Sie war und ist angeblich unzulänglich.

Das ist grobes Unrecht und grober Undank. Die gewaltigen Errungenschaften und Erfolge der Gegenwart sind von Menschen erzielt worden, die eben diesen angeblich so unzulänglichen Unterricht und diese angeblich überholte Erziehung in Schule und Elternhaus genossen haben.

Hier tut Gerechtigkeit und Wiedergutmachung not, sonst wird das ganze Bemühen um die Schulreform unglaubwürdig. Nach dem bisher vorgelegten Reformprogramm werden unter der Losung der vielzitierten Chancengleichheit alle Türen zu dem höheren Mittelbau weit aufgerissen. Sogar die Aufnahmeprüfung wird gestrichen.

Man fragt sich unwillkürlich: Wohin führt eigentlich der Weg?

Ich bedaure es, daß der seinerzeitige Idealismus, der für die sozialistische Bewegung seit ihrer Gründung immer ein Leitgedanke gewesen ist, daß dieser Idealismus sehr, sehr stark zurück- und verlorengegangen und daß die Materialisierung der Gesellschaft heute ein fühlbares und sichtbares Übel geworden ist.

Man darf nur der Hoffnung Ausdruck verleihen, daß sich diese das Gemeinschaftsleben von heute vielfach charakterisierenden Erscheinungen wieder überwinden lassen.

Die Kontrolle kann nicht gründlich

und gewissenhaft genug sein; und nur sie allein ist.die Bürgschaft dafür, daß Erscheinungen, wie sie sich jetzt leider gehäuft und eine sehr ungute Atmosphäre geschaffen haben, zu beheben sind.

Aber eine Reidealisierung der Arbeiterbewegung ist ein Gebot der Stunde. Vor allem müssen die Funktionäre mit gutem Beispiel vorangehen - da fehlt es in vielfacher Hinsicht. Man kann ja täglich, wenn man die Tageszeitungen aufschlägt, sehr, sehr ungute Vorkommnisse lesen. Diese werden freilich auch von den Medien sehr stark und vielfach gezielt übertrieben, aber an der Tatsache ihres Vorhandenseins kann man nicht vorbeigehen.

Der Schrei und die Tendenz der Zeit gehen vielfach dahin, es müsse einfach alles anders werden. Das ist ein gefährliches Übel. Fast hat es bisweilen den Anschein, als ob sich dem Ruf dieser toll gewordenen Epoche niemand und nichts entziehen könnte oder wollte. Selbst das intime Eigenleben ist davon betroffen, die Familie weitgehend ausgeschaltet. Die Folgen, so fürchte ich, werden nicht ausbleiben.

Zum Schlagwort „Demokratisierung aller Lebensbereiche“ sollte man sich nach meiner Meinung vor Übertreibung hüten, ebenso hinsichtlich der üblich gewordenen Hofberichterstattung. Sie artet in bedenklichem Maße

aus, führt zur Vergötzung - und die Tore zur Satire öffnen sich von selbst.

Die Gewerkschaften, die in den letzten Jahren ungeheuer viel Positives geleistet haben, sind meines Erachtens im Schoße der Partei übermächtig geworden. Sie sind zwar ein Fundament der Partei, ein nicht entbehrliches und begrüßenswertes Fundament der Partei, aber in gewissem Sinn dürfen sie die Linie der Partei nicht in fast diktatorischer Weise beeinflussen.

Der Einfluß der Gewerkschaften müßte durch die Idealisierung der Mitglieder der Partei zurückgedrängt werden. Denn wenn übermäßige Forderungen gestellt werden, die der wirtschaftlichen Möglichkeit Widerstreiten, dann gerät nicht bloß die Demokratie in Gefahr, sondern das Fundament des Staates.

Gegenwärtig, das muß mit Nachdruck hervorgehoben werden, sind die maßgeblichen verantwortungsbewußten Führer der Gewerkschaften gewissenhaft genug, allen radikalen Forderungen entgegenzutreten.

Aber ich bin pessimistisch. Ich glaube, daß die Zukunft harte Bedingungen stellen und schwere Probleme aufwerfen wird, und da ist der Mut zur Wahrheit eine unerläßliche Notwendigkeit, ohne die der Staat den kommenden Problemen nicht gewachsen wäre.

Ich bin kein orthodoxer Sozialist und ich freue mich, daß das Wort Klassenkampf eigentlich fast überhaupt verschwunden ist, das früher eine zukunftsweisende Lösung gewesen ist.

Aber man hört heute auch das Wort Proletarier und Plebejer nur mehr ganz selten, weil eben die Menschen durch das Wirken der sozialistischen Bewegung die sozialen Verhältnisse auf eine Höhe gebracht wurden, die ein alter Mann, der das frühere erlebt hat, fast nicht mehr begreift.

Die Menschen leben heute auf einem Niveau, wissen nicht, wie es einmal gewesen ist, wissen es daher auch zu wenig zu würdigen und zu schätzen, und daher ergibt sich da und dort eine radikale Stimmung, die ich als gefährlich erachte und die nicht genug bekämpft werden kann.

Sechs volle Jahrzehnte stand ich im öffentlichen Leben. Daraus leite ich trotz alle Bescheidenheit das Recht und die Verpflichtung ab, für ein gemeinsames Europa, für eine Welt in Einigkeit und Glück zu plädieren.

Mit einem Wort von Bert Brecht möchte ich schließen: Kein Weg ist so schwer wie der Vormarsch zurück zur Vernunft.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung