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Zurückgehen oder...?

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Die Flucht aus wirtschaftlichen Gründen hat für Polen eine lange Tradition. Daheim steht heute die Freiheit vor der Tür. Grund für viele „Wirte“ im Westen, dichtzumachen.

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Die Flucht aus wirtschaftlichen Gründen hat für Polen eine lange Tradition. Daheim steht heute die Freiheit vor der Tür. Grund für viele „Wirte“ im Westen, dichtzumachen.

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Vor fast 200 Jahren hat Polen seine Unabhängigkeit verloren. Es wurde unter Rußland, Preußen und Österreich aufgeteilt. Im Exil begannen ab 1796 polnische Soldaten und bürgerliche Zivilkämpfer mit den Vorbereitungen zum Kampf um die Unabhängigkeit Polens.Die Massenemigration begann nach dem verlorenen Novemberaufstand 1830 gegen den russischen Eroberer.

Als Polen im November 1918 seine Unabhängigkeit wiedergewann, wurde der neue Staat in erster Linie von Emigranten gebildet. In der Zwischenkriegszeit gab es fast keine polnischen Emigranten. Nur arme Leute gingen ins Ausland -besonders aus den Dörfern. Sie suchten Arbeit und Lebensunterhalt vor allem in den USA und Südamerika. Die wirtschaftliche Emigration hat eine lange Geschichte. Erste polnische Emigranten gelangten schon im 17. Jahrhundert an die amerikanische Küste, die Massenemigration nach Amerika begann erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts:

Der Zweite Weltkrieg und vor allem die Lage Polens nach Jalta war Ursache dafür, daß viele Emigranten im Westen blieben. Das neue kommunistische Regime bedrohte viele. Die Treue zu Muttersprache und Tradition brachte vielen Polen in der Fremde nicht selten Schwierigkeiten.In den 5 Oer und 60er Jahren war es für Polen fast unmöglich, einen Paß zu bekommen. Dem Durchschnittspolen blieben nur Träume an freie, ferne, unbekannte westliche Länder.

1968 verursachten die Kommunisten eine neue Emigrationswelle. Als Behörden Juden wegen Studentendemonstrationen anschuldigten, gingen diese ins Ausland. Dann kam die Ära Gierek. Selbst aus dem Westen zurückgekehrt, kam mit ihm eine Öffnung gegenüber dem Westen. Dieses erste westliche Lüftchen vergrößerte die polnische Sehnsucht nach einem besseren Leben.

In den späten siebziger Jahren konnten sie endlich diese Sehnsucht verwirklichen. Paßerleichterungen ermöglichten erstmals Reisen durch den „Eisernen Vorhang“. Paris und Wien waren Traumziele vieler Polen. Manche begannen auch schon, im Ausland Geld zu verdienen.

Die stärksten Emigrations jähre waren 1980 und 1981. Trotz der durch die Solidarnos'c-Bewegung ausgelösten Begeisterung wurden die politischen und wirtschaftlichen

Aussichten immer schlimmer. Und die Nacht auf den 13.Dezember 1981 (Beginn des Kriegsrechtes in Polen) hat Hoffnungen auf Demokratie und Unabhängigkeit für Jahre zunichte gemacht.

Viele aktive Leute der Opposition standen vor der Wahl: Ausreise oder Gefängnis. Einige entschieden sich für die Emigration. Dieser Welle gehörten viele Schriftsteller, Schauspieler, Regisseure, Journalisten, Wissenschaftler und andere Vertreter der Intelligenz an. Auf die Kriegsrechtszeit, die aus Polen praktisch ein Gefangenenlager machte, folgte eine wesentliche

Paßerleichterung. Kein Wunder, daß nun die Ausreisen massiv an-wuchsen.Für viele Leute war Österreich die erste Station.

Hier kam es zu einer ziemlich schmerzhaften Konfrontation von Vorstellungen vom Westen und der Wirklichkeit. Das Hauptmotiv der Ausreisenden war der Wunsch, in einem freien Land zu leben. Die finanzielle Seite spielte dabei eine nebensächliche Rolle.

In jüngster Zeit hat sich die Situation allerdings verändert. Polen macht Riesenschritte in Richtung Demokratie. Emigration aus politischen Gründen ist also nicht mehr glaubwürdig. Heutige Emigranten sind „Wirtschaftsflüchtlinge“

Es braucht sicher eine gewisse Zeit, bis die Reformen in Polen eine merkbare Verbesserung erkennen lassen. Momentan ist die wirtschaftliche Lage tragisch. Hohe Preise erzeugen Angst vor Armut und Hunger. Unproblematische Paßformalitäten erleichtern die Entscheidung zum Auswandern.

Viele kommen auf unbestimmte Zeit nach Österreich. Sie wollen zunächst nur Geld verdienen und später zurückkehren. Der Schillingkurs im Verhältnis zum Zloty bedeutet eine Chance, schnell reich zu werden.

Andere kommen für immer. Sie wollen ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. „Dort kann man nicht leben“ - sagen sie, wie zur Entschuldigung. Sie suchen Arbeit, eine Wohnung, oft erfolglos. Schwarzarbeit führt zur Kollision mit den österreichischen Gesetzen. Oft aber ist sie die einzige Chance zum Überleben. Integrationsprozesse bringen Schwierigkeiten und innere Hemmungen. Arbeiter finden jetzt leichter entsprechende Beschäftigung, schwer tun sie sich beim Erlernen des Deutschen und bei der Umstellung auf die Lebensgewohnheiten der Österreicher. In der schlimmsten Situation sind aber die Akademiker. Sie sind bestimmte hohe Formen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens gewohnt. Und nun - besonders in der ersten Zeit ihrer Emigration -ziehen sie sich intellektuell zurück. Sie verlieren - meist für immer - die Chance, eine qualifizierte Arbeit zu finden.

Akademikerinnen werden Putzfrauen, Diplomingenieure sind als Maurer an Baustellen zu finden. Sie fühlen sich deklassiert, verschwenden ihre Fähigkeiten und das durch Jahre erworbene Wissen. In der Emigration bleiben sie im „polnischen Ghetto“, ohne irgendeine Chance auf den Eintritt in die Gesellschaft österreichischer Akademiker. Sie erleben die Bitterkeit der Emigration in der Einsamkeit. Manchmal bereuen sie ihre Entscheidung, aber die Rückkehr nach Polen ist oft unmöglich, weil sie alle Brücken hinter sich abgebrochen haben.

In Polen gibt es heute noch immer einen Mythos vom Westen. Und auch der erste Kontakt mit der westlichen Welt berückt, fasziniert regt zum Bleiben an. Bedenken kommen erst später. Ein Trost ist erst einmal, in einem freien Land zu leben. Eine gewisse Rolle spielte bisher auch die Überzeugung, daß die polnische Emigration eine historische Rolle habe.

Heute, da Polen an der Schwelle der Freiheit steht, müssen sich die Emigranten entscheiden: Zurückgehen oder...? Die wirtschaftliche und moralische Hilfe aus dem Westen kann eine Antwort auf diese Frage erleichtern. Diese Hilfe könnte auch das Problem mit den unwillkommenen Emigranten aus dem Osten lösen.

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