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Am 25. Februar 1973 starb in Wien, wenige Tage nach Vollendung ihres 76. Lebensjahres, die Witwe des am 25. Juli 1934 ermordeten Bundeskanzlers Dr. Engelbert Dollfuß. Alwine Glienke, die Tochter eines Gutsbesitzers in Pommern, hatte 1921 den zum Studium des bäuerlichen Genossenschaftswesens1 nach Berlin gekommenen Werkstudenten Engelbert Dollfuß kennengelernt, am 31. Dezember 1921 wurden die beiden von Dr. Karl Rudolf in der Pfarrkirche von Kienberg an der Mank, der Heimat des Kanzlers, getraut.

Neben ihren politischen Verpflichtungen widmete Alwine Dollfuß sich vor allem einem umfangreichen sozialen Hilfswerk. Seit der Einrichtung der unter Mitwirkung von Kardinal Piffl und Bundeskanzler Sei-pel von der Gründerin der „Caritas Socialis“, Hildegard Burjan, ins Leben gerufenen „St.-Elisabeths-Tische“ im Jahr 1931 nahm Alwine Dollfuß an dieser Sozialaktion für den verarmten Mittelstand teil, die während der Wintermonate Mittagessen für Selbständige, Beamte, Künstler und Studenten beredtstellte. 1932 bis 1938 hatte sie die Gesamtleitung dieses Hilfswerkes für „verschämte Arme“.

Im März 1938 mußte sie Österreich mit ihren Kindern verlassen. Sie flüchtete in die Schweiz, von dort nach Kanada, wo ihr Sohn noch heute lebt. Seit 1955 lebte sie zurückgezogen bei ihrer Tochter in Wien.

Alwine Dollfuß war die Witwe des einzigen über Hitlers Wunsch und Befehl ermordeten Regierungschefs, des ersten Toten im österreichischen Freiheitskampf der Jahre zwischen 1933 und 1945. Dem toten österreichischen Bundeskanzler folgten in langer Reihe die auf der Flucht Erschossenen, die unter dem Fallbeil oder vor der Genickschußwand Gestorbenen, die vergasten Juden, die in Konzentrationslagern Verhungerten, die zu Tode Gefolterten, die in der Emigration Zugrundegegangenen — Opfer für Österreich.

Anderswo wäre die Kanzlerswitwe Mittelpunkt öffentlicher Ehrungen gewesen, ihr Tod Anlaß zu offizieller Trauer, zu Nachrufen und zur Besinnung auf Jahre tragischer Größe. Nichts von all dem in der Zweiten österreichischen Republik. Man ist ja hier nicht etwa in Frankreich, wo die Erinnerung an das Königtum und an den napoleonischen Cäsarismus gleich viel wiegt wie die Erinnerung an alle vier der fünften vorangegangenen Republiken und wo ein für Frankreich Gefallener turmhoch über allen aktuellen oder historischen Ressentiments steht.

Man wäre nachgerade versucht, sich dieses Staates, dieser Zweiten österreichischen Republik zu schämen, käme nicht sehr bald und in absehbarer Zeit ein erstes Anzeichen des Umdenkens zum Vorschein, eines neuen Denkens, das imstande ist, die ganze österreichische Geschichte zu integrieren, ob sie nun fröhlich oder traurig, hart oder verträumt, diesem oder jenem Parteiprogramm angemessen war oder nicht. Ostmark, Heiliges Römisches Reich, Deutscher Bund, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Ständestaat und Zweite Republik — wir haben nicht den geringsten Grund, einen dieser Geschichtsabschnitte auszuklammern oder einen von ihnen nicht zu „bewältigen“.

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