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Zusammenschau im „Türkenjahr“

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Die ganz großen Gedenkjahre haben wir bekanntlich schon halb hinter uns, bevor sie ganz da sind. Uber das Türkenbe- lagerungs-Gedenkjahr etwa wurde, solange es noch lpevorstand, im voraus schon so viel geschrieben, daß es nun, wo es da ist, fast als alter Hut erscheint.

Vermutlich wird die Welt schon 1990, spätestens 1995 über das Jahr 2000 so viel Kluges lesen müssen, daß man den tatsächlichen Anbruch des neuen Jahrtausends nur noch mit Gähnen zu registrieren in der Lage sein wird.

Den Sieg 1683 über die Türken will 300 Jahre später ohnehin kaum jemand mit allzuviel Pauken und Trompeten begangen sehen. Das war vor 50, vor 100 Jahren noch ganz anders. Wer in alten Zeitungsbänden nachblättert, muß den Kopf schütteln über den militanten, zum Teil noch naiv kriegsbegeisterten Ton, in dem damals die Befreiung des Abendlandes von der Türkenbedrohung gefeiert wurde.

Wenn man hoffen darf, daß verändertes Fühlen, veränderte Sprache politische Veränderungen ankündigen, historische Wenden vorausahnen lassen, dann müßte das Zeitalter des Friedens vor der Tür stehen.

Die Empfindlichkeit, mit der viele österreichische Journalisten jeden fremdenfeindlichen Oberoder Unterton im> Zeichen des Türkennot-Gedenkens registrieren, die weitverbreitete Allergie gegen alles, was in diesem Zusammenhang zu Abendland-bewußt, zu siegestaumelnd, zu unreflektiert einäugig wirken könnte, lassen den Schluß zu, daß wir doch etwas gelernt haben.

Der im Vergleich mit 1883 und 1933 so ganz andere Stil, in dem wir uns 1983 an 1683 erinnern, ist vielleicht das Bemerkenswerteste an diesem Jubiläum und beschert uns im Zusammenhang damit den eigentlichen Erkenntnisgewinn.

Auch die vielen Bücher, die zum gegebenen Anlaß erschienen (zwei davon werden hier behandelt), spiegeln diese gründlich veränderte Einstellung. Noch vor 50 Jahren sah man den Abwehrkampf gegen die vor Wien aufmarschierenden Türken völlig einseitig aus der Wien-Perspektive, aus österreichischem, besten falls aus europäischem Blickwinkel.

1983 hingegen steht alles im Zeichen der Bemühung, die Dinge auch mit den Augen der anderen Seite zu sehen, auch die Motive zu verstehen, die das Handeln der führenden Persönlichkeiten auf der osmanischen Seite bestimmten; Zusammenschau heißt die Devise.

Dem Styria-Verlag verdanken wir die Begegnung mit dem vor 15 Jahren in New York erschienenen Werk „Doppeladler und Halbmond“, dessen Autor, Thomas M. Barker, die Ausgangslage, die Interessen aller am Konflikt direkt oder indirekt Beteiligten herausarbeitet, bevor er Türken und Kaiserliche am Mauerring von Wien aufeinanderprallen läßt.

Der Residenz-Verlag legte den prachtvoll ausgestatteten Band „Die Türken vor Wien“ vor, der dem Konzept der in Wien veranstalteten, großen Ausstellung folgt und einlädt, die dort gewonnenen Eindrückezu vertiefen. Die beiden Bücher ergänzen einander in vortrefflicher Weise. Hier das von 34 qualifizierten Autoren erarbeitete, alle Aspekte des Geschehens beleuchtende Kompendium, dort, bei Barker, das Werk eines gründlich recherchierenden, dabei sich nie im Detail verlierenden, sehr lesbar schreibenden amerikanischen Universitätsprofessors.

Dabei macht er, keineswegs im Gegensatz mit dem französischen Ordinarius Jean Bėrenger im anderen Buch, auch deutlich sichtbar, was selbstverständlich die Historiker wissen, was aber auf populärer Ebene oft unter den Tisch gekehrt wurde: Die Einnahme Wiens durch die Türken hätte keineswegs das Ende des Abendlandes und kein osmanisch dominiertes Europa bedeutet.

Sehr wohl aber hätte eine Niederlage des Kaisers in der Auseinandersetzung mit den Türken die Kräfteverhältnisse innerhalb

Europas verändert und Frankreich wohl zum Herrn des Kontinents gemacht.

In vielen emotional gefärbten Darstellungen wird Frankreichs König Ludwig XIV. als Verräter dargestellt. Heute ist man objektiver. Das Habsburgerreich war damals in eine Auseinandersetzung an zwei Fronten verwickelt, der Streit darüber, welche Front ernster zu nehmen sei, hatte den Wiener Hof schon lang in Atem gehalten, mit dem Sieg über die Türken rettete Leopold I. nicht so sehr das christliche Europa an sich, sondern vor allem die Position seines Reiches und Hauses innerhalb dieses Europa.

Und, selbstverständlich und vor allem, die Kaiserstadt, den von den Osmanen schon lang begehrlich beäugten „Goldenen Apfel“ namens Wien, und die in der Stadt zusammengepferchten, kämpfenden und sterbenden, leidenden und hoffenden, zum Teil aber auch ungerührt gute Geschäfte mit den immer teurer werdenden Lebensmitteln machenden Menschen.

Aus der Wiener Perspektive bedeutete das Eintreffen des Entsatzheeres und die Flucht von Kara Mustafa am 12. September 1683 nicht einfach Befreiung, sondern Lebensrettung.

Für den Rest von Europa ist dieser Tag ein erstrangiges historisches Datum — neben anderen. Emotional freilich hat die Belagerung Wiens und seine Rettung in buchstäblich letzter Stunde Europa zutiefst berührt. Davon zeugen die Dankgottesdienste „vom Petersdom bis- zu den protestantischen Kirchen der nördlichen und westlichen Küsten“ (Barker), auch von Ludwig XIV., so Bėrenger, „wurde der christliche Sieg am Kahlenberg … als Segen Gottes empfunden“, denn erst im Sommer war der Sonnenkönig sich des ungeheuren Risikos bewußt geworden, das er provoziert hatte.

Er hatte viel verspielt, Bėrenger nennt den Preis: „Die Haltung Ludwigs XIV. stellte sich als katastrophal der deutschen öffentlichen Meinung gegenüber heraus, und die militärische Übermacht nützte nichts mehr.“

Europa aber war von einer Furcht befreit, die, so Barker, „vermutlich sogar ihre tieferen Wurzeln in der uralten Angst der Bedrohung aus dem Osten hatte“.

Legt man die beiden den historischen Horizont jedes Lesers bereichernden und dabei gleicherweise gut lesbaren Bücher aus der Hand, fühlt man, auch ohne in abendländische Euphorien zu verfallen, mit den befreiten Wienern—der Druck muß schrecklich gewesen sein.

Sollten wir im Jahr 2033 noch den Kopf für eine 350-Jahre-Tür- kenbelagerungs-Feier haben, böte sich ein Forschungs-Schwerpunkt an: 1983,300 Jahre nach den Ereignissen, wissen die Historiker eines noch immer nicht: Welche weiterreichenden Planungen und ob solche überhaupt hinter Kara Mustafas Griff nach dem Goldenen Apfel standen.

DOPPELADLER UND HALBMOND - Ent- scheidungsjahr 1683. Von Thomas M. Barker. Übersetzt und bearbeitet von Peter und Gertraud Broucek. Styria Verlag, Graz 1982. 424 Seiten, zahlreiche Tafeln, Ln., öS 450,-.

DIE TÜRKEN VOR WIEN - Europa und die Entscheidung an der Donau 1683. Herausgegeben vom Historischen Museum der Stadt Wien unter der Leitung von Robert Waissen- berger. Residenz Verlag, Salzburg 1982. 368 Seiten, 165 Abbildungen, Ln., öS 980,—.

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