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Zwei exotische Utopieblumen

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Mit dem Herannahen der Jahrtausendwende nimmt auch das Interesse anderZukunft zu: Weltuntergangsvisionen dringen bis in die Spalten großer Tageszeitungen vor, Science-fiction und Fantasy-Literatur findet immer mehr Anklang. Schließlich beglückt uns die Futurologie mit prognostischen Wechselbädern - einmal stehen wir knapp am Abgrund von Hungerkriegen und Rohstoffmangeln, ein andermal dürfen wir darauf hoffen, daß „die guten Jahre“ doch noch vor uns liegen.

„Wissenschaftliche“ und „phantastische" Auseinandersetzung mit der Zukunft wird dabei zumeist säuberlich getrennt. Erstere erfreut sich beträchtlicher Reputation, öffentlicher Förderung und (mitunter auch) politischer Relevanz, letztere wird in die reine Belletristik verbannt, wo sie dann mit „Perry Rhodan“, „Conan“ und dem „Krieg der Sterne“ um ein wenig Platz in den Taschenbuchreihen kämpfen muß.

Dies ist umso erstaunlicher als (historisch gesehen) ein überaus enger Zusammenhang zwischen phantastischem oder utopischem Denken und den Sozialwissenschaften bzw. deren philosophischen und juridischen Vorläufern besteht, - man denke etwa nur an Thomas Morus, Plato oder die utopischen Sozialisten.

Darüber hinaus enthalten alle sozialwissenschaftlichen Entwicklungstheorien utopische Momente; von der Vision der kommunistischen Gesellschaft bei Karl Marx über Max Webers „Gehäuse der Hörigkeit“ bis zu den verschiedenen Theorien der „postindustriellen“ Gesellschaft (Daniel Bell, Alain Touraine).

Auf der anderen Seite hat die utopische Literatur eine Vielzahl sozialer Probleme und zukünftiger politischer wie gesellschaftlicher Entwicklungen oft weit früher, realistischer und - in der Darstellung - auch dichter und verständlicher behandelt als die „gesicherten Prognosen“ der wissenschaftlichen Futurologie.

So haben sich Aldous Huxley („Island“) und Kurt Vonnegut („Player Piano“) schon zu Anfang der Fünfziger Jahre mit den Fragen fortschreitender Automation, sanfter Technologien, postmaterialistischer Wertordnungen und technologie-bedingter Arbeitslosigkeit beschäftigt; ökologische Katastrophen, die Folgen von Nuklearkriegen und die sozialen Konsequenzen technologischer Umwälzungen gehö- renzurStandard-Thcmatikder Sciencefiction.

Die einprägsamen Analysen totalitärer Gesellschaften bei Autoren wie Aldous Huxley („Brave New World“), George Orwell („1984“, „Die Farm der Tiere“), Anthony Burgess („Clockwork Orange“) und Jewjenij Samjatin („Wir“) halten dem Vergleich mit wissenschaftlichen Abhandlungen durchaus stand.

Gerade deshalb freut man sich, wenn im ansonsten gepflegten und eher kurzgeschorenen Rasen des etablierten oder „kritischen“ Wissenschaftsbetriebes doch von Zeit zu Zeit ein paar bunte, exotische Blumen sprießen; Gewächse einer vergangenen, zugleich aber zukünftigen Welt.

Zu ihnen zählen etwa die sozialistische Utopie des (leider zu früh verstorbenen) Rolf Richard Grauhan („Kommune als Strukturtypus politischer Produktion“, in: Grauhan/Hickel (hg), Krise des Steuerstaates, Sonderheft Leviathan 1978/öS 246,-) und das Modell einer radikal-liberalen Zukunftsgesellschaft von Winfried Vogt („Politische Ökonomie 1979“, in: J. Habermas (hg), Stichworte zur geistigen Situation der Zeit, Bd. I, Frankfurt/M 1979/öS 154,-)

Grauhan liefert in seinem Modell einer „kommunalen“ Zukunftsgesellschaft eine Absage sowohl an den Markt wie an zentrale Bürokratien. Die öffentlichen Dienstleistungen sollen soweit als möglich aus dem Waren-Geld- Kreislauf herausgenommen, Dienste

gegen Dienste getauscht werden: „Im Modell einer entfalteten Dienstleistungsökonomie … (sind) die Konsumenten der einen Dienste die Produzenten der anderen.“

Zugleich erfolgt eine Entprofessio- nalisierung und Entbürokratisierung. Die Bürger beteiligen sich ebenso ah der Entscheidung darüber, welche Dienste erbracht werden sollen, wie sie dieselben - von der Lehre über Krankenpflege bis zur Politik - zunehmend selbst in die Hand nehmen.

Vogt’s radikal-liberale Utopie trachtet hingegen danach, in Politik wie Wirtschaft eine „ideale“ Marktsituation herzustellen. Die private Verfügungsgewalt am und im Unternehmen soll aufgehoben, herkömmliche Arbeitsverträge in den „autonomen Arbeiter-Unternehmen“ untersagt werden, um eine Verzerrung der Marktpositionen durch die (nach wie vor bestehenden) unterschiedlichen Vermögensverhältnisse zu vermeiden:

„In der liberalen Gesellschaft ist es im Prinzip niemandem verboten… eine bestimmte gesellschaftliche Position einzunehmen oder Vermögen zu akkumulieren. Aber keines von beiden darf im Tausch zur Beeinflussung der Tauschrelationen eingesetzt werden.“

Gegen beide Zukunftsmodelle - deren Grundzüge hier nur kurz angerissen werden konnten - lassen sich zweifelsohne - von der Realisierungsfrage einmal ganz abgesehen - eine Reihe gewichtiger Einwände vortragen. Ihr Wert besteht aber nicht zuletzt darin, daß sie (als Positivutopien) ein Morgen zeichnen, das „mehr“ ist als nur „heute plus zehn Prozent“.

Vielleicht hilft uns eine Auseinandersetzung mit ihren Ideen und ein Weiterdenken jenseits von tagespolitischem „Machtertum“ und wissenschaftlichem „Fliegenbeinzählen“ vor einem Morgen zu bewahren, das letztendlich „weniger“ ist als das Heute.

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