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Zwei Kieselsteine

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Eines Abends war ich länger als sonst auf der Bank nahe dem Brunnen gesessen und alles war gewesen wie immer. Alles wie gewohnt, alles vertraut. Als der Geruch der Nacht langsam aufstieg, mußte ich wohl eingeschlafen sein, denn ich erlebte eine sehr seltsame Geschichte.

Ein leises, freundliches Klirren tönte plötzlich in der Luft, die Parkbäume schienen bunter zu werden und der steinerne Brunnen wurde zu Glas. Und es war mir, als säße ein Junge neben mir auf der Bank, dessen Haar grün und gelb und rot leuchtete und das wirr und steif von seinem Kopf wegstrebte, allen Richtungen des Himmels zu. Der Junge trug viel ledernes, zerfranstes Zeug am Leib, und in seinen Händen hielt er ein kleines Kistchen. Rot mit beschlagenem Rand.

Es dauerte nicht lange und der Junge begann zu sprechen:

Warum schreist du nicht, alter Mann, wenn dir danach zumute ist? fragte er.

Meine Stimme ist zu schwach,

sagte ich, manchmal aber schreie ich still.

Du kannst mit deinen Augen schreien, meinte der Junge oder mit deinen Händen, deiner Haut, deinem Haar.

Meine Augen sind trüb, antwortete ich traurig, meine Hände zitt-

rig und meine Haut wirft schon lange Schatten.

So sind sie alle, sagte der Junge zu sich, sie geben es einfach auf. Nach einer Weile geben sie es einfach auf und sterben.

Er sah mich lange an, bevor er auf das Kistchen in seinen Händen wies und folgende Worte an mich richtete:

Ich will dir dies schenken, alter Mann. Hierin sind zwei Steine, der Stein der Träume und der Stein des Mondes. Nimm sie an dich und versuche, verrückt zu sein, denn je verrückter du bist, desto weniger kann man dich verletzen.

Nach diesen Worten stand der Junge auf und ich sah, daß er lä-

chelte. Zu meinen Füßen legte er das Kistchen und verließ ohne ein weiteres Wort den Park. Das Bunt der Bäume nahm er mit sich und das Glas des Brunnens und das Klirren der Luft, bis alles wieder war wie immer.

Als ich erwachte, war es Nacht geworden. Mein Kopf dröhnte ein wenig, doch deutlich entsann ich mich des Jungen. Ich bin wohl doch schon ein seniler alter Mann, dachte ich bei mir und wollte aufstehen. Da sah ich im Schein der Laterne einen schäbigen, schmutzigen Schuhkarton zu meinen Füßen liegen. Die Neugier ließ mich die häßliche Schachtel öffnen, deren Inhalt mich über alle Maße erstaunte. Zwei Kieselsteine lagen darin, klein und grau alle beide.

Wider meinen Willen nahm ich sie an mich, wider mein Wissen begann ich zu glauben. Im Gehen betastete ich vorsichtig die beiden Kiesel in meiner Manteltasche, ich schloß die Augen und versuchte mit aller Kraft, verrückt zu sein.

Die Autorin, Jahrgang 1964, in Freistadt geboren, erhielt vor wenigen Wochen den Förderungspreis zum Peter-Altenberg-Preis für Kurzprosa der Creditanstalt-Bankverein.

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