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Zweiheit der Wege zu Gott

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In Kassel wurde am 25. Dezember 1886 Franz Rosenzweig geboren, im Dezember 1986 erörterten hier Gelehrte aus mehreren Ländern das Werk des jüdischen Denkers.

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In Kassel wurde am 25. Dezember 1886 Franz Rosenzweig geboren, im Dezember 1986 erörterten hier Gelehrte aus mehreren Ländern das Werk des jüdischen Denkers.

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Franz Rosenzweig hat mit Martin Buber an der „Verdeutschung der Schrift“ gearbeitet. Langsam entdeckt man hinter dem bedeutenden Denker Martin Buber den großen jüdischen Religionsphilosophen Franz Rosenzweig, der der Krisis des abendländischen Denkens nicht nur mit einer entschiedenen Verknüpfung von Philosophie und Glauben zu begegnen versuchte, sondern in der Erneuerung des jüdischen Glaubens

auch ein Grundelement für die Selbstfiridung des christlichen Abendlandes erblickte.

Mit Recht hat man deshalb Rosenzweig mit Moses Maimonides (1135-1204) verglichen, dem anderen großen jüdischen Religionsphilosophen, dessen Synthese von jüdischem Glauben und griechischer Philosophie zum Vorbild der christlichen Scholastik, des erneuerten Anfangs des abendländischen Denkens im Mittelalter, geworden war. Es ist unbestritten, daß Franz Rosenzweig zu den bedeutendsten jüdischen Denkern unseres Jahrhunderts gehört, ja, daß er vermutlich weit über unsere Epoche hinaus von Bedeutung sein wird.

Er wurde am 25. Dezember 1886 in Kassel geboren, wuchs in einem liberalen Hause auf und studierte zunächst, auf Wunsch des Vaters, Medizin, wandte sich aber nach bestandenen Physikum dem Studium der Geschichte und Philosophie zu, das er als Schüler Friedrich Meineckes mit einer Untersuchung von Hegels politischen Ideen abschloß.

Das Jahr 1913 brachte, in einer Zeit ständigen Gedankenaustausches mit seinem Freund Eugen Rosenstock, die Abwendung von Hegel und der idealistischen Philosophie und nach ernsthafter Selbstprüfung das uneingeschränkte religiöse Bekenntnis zum angestammten Judentum, mit dessen Quellen er sich nun intensiv zu beschäftigen begann. Die Begegnung mit Hermann Cohen wurde für Franz Rosenzweig besonders wichtig.

An Hermann Cohen richtete er auch sein Sendschreiben „Zeit ist's“, einen Plan zur Erneuerung jüdischer Erziehung und Forschung, in dienstfreien Stunden an der Balkanfront des Ersten Weltkrieges verfaßt, das später

zur Gründung der „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“ führte. Viele pädagogische und politische Aufsätze entstanden während des Krieges, neben einem ausgedehnten Briefwechsel mit Eltern und Freunden über Zeitereignisse, Judentum und Christentum, über Schöpfung und Offenbarung—Gedanken, die geradlinig zum „Stern dar Erlösung“ hinführen. Gegen Ende des Krieges, auf dem Rückzug der Balkantruppen, schrieb Rosenzweig auf Feldpostbriefen den größten Teil dieses seines Hauptwerks, das im Februar 1919 abgeschlossen wurde und das Zeugnis der Wendung von der idealistischen Philosophie zum gläubigen Denken, dem „neuen Denken“, darstellt. Rosenzweig sah im Abschluß dieses Werkes zugleich das Ende einer Epoche seines Lebens.

Er wollte keine Bücher mehr schreiben, nur noch das Gesagte „im Leben“ bewähren, um schließlich im hohen Alter noch einmal die Erfahrung des gläubigen Lebens und Denkens auszusprechen.

1922 erkrankte er an einer Lateralsklerose, die in sieben Jahren

zur allmählichen, fast vollständigen Lähmung der Gliedmaßen und der Sprache führte. Trotz aller Behinderung blieb er der bestimmende Mittelpunkt seines gelehrten Freundeskreises und stand in lebhaftem Briefwechsel mit vielen Menschen.

In diesen Jahren übersetzte er Gedichte und Hymnen des Jehuda Halevi, es folgte die Ubersetzung der Schrift mit Martin Buber, an der Rosenzweig bis zum Buche Jesaja (Jeschajahu) beteiligt war, sowie eine große Zahl von Aufsätzen und Artikeln. Franz Rosenzweig starb am 10. Dezember 1929, 42j ährig, in Frankfurt am Main.

Wer seinen Namen bislang nur aus der Literatur kannte, vermutet in Rosenzweig zunächst den Historiker und dann den Philosophen. Schließlich ist „Hegel und Staat“ die Arbeit eines Historikers, und Karl Löwith hat Rosenzweig als den eigentlichen philosophischen Zeitgenossen Martin Heideggers gewürdigt. Der Leser seiner Werke, vor allem der Briefe

und Tagebücher, nimmt aber auch an den Kämpfen teil, die Rosenzweig mit sich selbst führt, um seinen Ort in diesem durch die Pole Judentum und Deutschtum gekennzeichneten Spannungsfeld zu finden. Mit allen Kräften seines Herzens strebte er danach, ganz jüdisch und ganz deutsch zu sein.

„Ich glaube, die Verjudung hat aus mir keinen schlechteren, sondern einen besseren Deutschen gemacht“, so bekennt Rosenzweig 1923, und kurz vor seinem Tode schreibt er: „Sprache ist doch mehr als Blut...“

Rosenzweig ist einer der ersten, die in unserem Jahrhundert die entschiedene Hinwendung zur Sprache als der jeweils geschichtlichen Totalität alles Weltlichen und Menschlichen vollziehen. Darüber hinaus hat Rosenzweigs Denken in ganz neue Möglichkeiten der Begegnung zwischen Judentum und Christentum hineingeführt, die so vielleicht seit den Tagen des Paulus nicht mehr gegeben waren. Denn Rosenzweig zeigt in seinem Hauptwerk „Der Stern der Erlösung“, daß und warum ein Jude die Christenheit als eine heilsgeschichtlich notwendige Gemeinschaft anerkennen kann. Die Christenheit ist die Gemeinschaft der durch Jesus jeweils neu Bekehrten, die so zum Vater kommen, sie ist die Gemeinschaft, die durch Mission besteht und in der Mission das Leuchten der Erlösung in die ganze Welt trägt. Aus dieser Erkenntnis leitete Rosenzweig für sich selbst ab, daß es für ihn nicht notwendig und insofern auch nicht möglich sei, zum Christentum zu konvertieren. Die Zweiheit der Wege von Judentum und Christentum ist für Rosenzweig eben gerade keine von Menschen konstruierbare, sondern eine von Gott selbst gegebene Zweiheit. Deshalb wurzelt die gegenseitige Anerkennung von Judentum und Christentum letztlich in einem Akt der Gottesverehrung.

Die von Juden wie Christen als Richtmaß der Geschichte geglaubte eschatologische Zukunft des menschheitlichen Heiles steht heute drängender, herausfordernder und kritischer „vor der Tür“ als in dem Jahre, in dem Franz Rosenzweig starb. So mag Franz Rosenzweigs Werk Jieute denn auch sprechender werden — so wie er dies selbst vorausgeahnt hat: „Ich werde erst posthum meinen Mund ganz auftun.“

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