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Zweimal Exemplarisches

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Georg Lentz (Jahrgang 1928) erzählt in seinem ersten Roman „Muckefuck“ die Geschichte des Karl Kaiser, der in der Berliner Laubenkolonie „Tausendschön“ aufwächst. Kleinbürgerliche Beschaulichkeit herrscht im Elternhaus und in der von prägnant gezeichneten Berliner Vorstadttypen bevölkerten Umwelt. Jeder blickt kaum über den eigenen Zaun hinaus, geht seiner Arbeit nach und pflegt mit Hingebung das schöne Gärtchen.

In einigen Familien jedoch besteht Ehrgeiz bezüglich der Zukunft der Kinder. Karl Kaiser etwa wird ins Gymnasium geschickt, und seine Eltern bauen sich ein Häuschen in der angrenzenden, etwas vornehmeren Siedlung. Man lebt bescheiden, redlich und zufrieden seinen provinziellen Alltag auch dort. Die große Welt mit ihren Problemen bleibt draußen.

„Muckefuck“ hieß in Norddeutschland jener grausliche Ersatzkaffee, der im Dritten Reich zum Landesgetränk avancierte. Lentz, scheint mir, meint damit etwas viel Umfassenderes: jenen ganzen faulen Zauber der Nazizeit, hinter dem sich die unmenschliche Brutalität des Systems zu verbergen suchte.

Erst Hitlers Machtergreifung bringt nämlich Bewegung in die spießige Idylle. Die Geister scheiden sich nun. Immerhin gibt es in der Siedlung, neben einigen Supernazis, vielen Mitläufern und einigen Zweifelnden, einen Altkommunisten, der übrigens den Spuk des Dritten Reiches überlebt. In Karl Kaisers Familie sind gleich zwei Nichtnazi. Der Vater bewahrt sich ein eigenes Urteil, und die deutlich antibraune Großmutter — eine beherrschende Gestalt der Handlung — macht aus ihrer Einstellung kein Hehl. Als ihr Enkel zum ersten Mal in seiner Jungvolk-Ausrüstung erscheint, vermerkt sie kopfschüttelnd: „Ein Braun wie Schifferscheiße!“ Aber sie versteht es gleichzeitig, den dümmlichen BloCkwart mit ihrem Kirschlikör zu becircen, um ihn, wenn er zuviel davon getrunken hat, mit allerlei Wahrheiten zu konfrontieren, die mit seiner Parteitreue gar nicht vereinbar sind.

Auch sie bewahrt den Karl Kaiser freilich nicht vor der allgemeinen Laufbahn Jugendlicher jener Zeiten. Er muß Pimpf werden, später HJ-Mitglied. Schließlich wird seine ganze Klasse zum Erntedienst bei den Kaschuben eingesetzt, bald darauf als Luftwaffenhelfer. Eine Wiener SS-Ärztin bewahrt die Halbwüchsigen vor der Uberstellung in die Waffen-SS. Sie werden stattdessen, kurz vor Kriegsende, nach Husum zum Arbeitsdienst befohlen; Rettung vor dem Verheizen für viele von ihnen, auch für Karl Kaiser. Sein Vater dagegen, als Invalide des Ersten Weltkriegs in einem Pferdelazarett nahe seinem Wohnort eingesetzt, in dem es nie Pferde zu betreuen gab, wird noch kurz vor Kriegsende durch eine Bombe getötet.

Karlchen, von seiner Mutter immer noch „Menschlein“ genannt, findet nach seiner Heimkehr perfekt Anschluß an die chaotischen Zeiten. Ganz up to date, betreibt er Schwarzhandel, verdingt sich den Amerikanern, die die russischen Besatzungstruppen in „Tausendschön“ abgelöst haben, und organisiert mit seiner pfiffigen Großmutter, die eine Hühnerzucht betreibt und ein Schwein füttert, aufs beste ein gutes Leben der Familie; ein Leben, das niemanden schädigt, von dem im Gegenteil auch die Nachbarn profitieren.

Die Handlung ist prall von typischer „Berliner Atmosphäre“: schlagfertiger Schnoddrigkeit, Lebenstüchtigkeit, gemischt mit Herz. Darüber hinaus wird Exemplarisches über die Jugend im Dritten Reich sichtbar. Das Nebeneinander von normaler Kindheit und skrupelloser Manipulation, der diejenigen zu widerstehen vermochten, die in ihrer Familie noch etwas von persönlicher Selbständigkeit schmecken durften. Lentz kann großartig erzählen.

Exemplarisch für einen gewissen Teil der Jugend, diesmal unserer Zeit, ist auch der Roman „Heimsuchung“ von Volker Degener, dem Leiter einer deutschen Polizeidienststelle, der sich gefährdeter Jugendlicher annimmt. Der Autor schildert das Leben von Randgruppen unserer Gesellschaft, von Rockern, Obdachlosen, Straßenmädchen, Zuhältern und anderen verfemten Typen. Degener kennt ihr Milieu und ihren Jargon durch seine Arbeit aus unmittelbarer Erfahrung und versucht den Gründen ihrer abwegigen Reaktionen auf die Spur zu kommen, anstatt sie einfach zu verdammen und abzuschreiben, wie das angepaßte gute Bürger so häufig tun.

Schauplätze der Geschehnisse sind Orte des Ruhrgebietes, in denen die Rockergruppe „Bloody Devils“ Ruhe und Ordnung stören. Sie fahren wild durch die Straßen, provozieren Schlägereien mit Obdachlosen, Zusammenstöße mit der Polizei, einen Uberfall auf einen Autofahrer. Der Chef der Bande wird schließlich verhaftet, was Führungskämpfe zwischen den Mitgliedern zur Folge hat. Einige gleiten ab in echte Kriminalität, andere versuchen, Anschluß an ein anständiges bürgerliches Leben zu finden. Degener demonstriert die Entwicklung in Interviews, die ein Soziologiestudent mit den Rockern führt. Dieser Horst Hüls verläßt allmählich die Position des sachlichen Beobachters, sieht sich unversehens in echtes Engagement verstrickt.

Auch mögliche Lösungen des Problems der kriminell gefährdeten Jugend werden erwogen: therapeutische Wohnheime etwa, Planstellen für Gruppenarbeit und mehr persönlicher Einsatz der Sachbearbeiter. Ich finde es tröstlich und hoffnungsvoll, daß ausgerechnet ein Mann der Polizei fragt, warum jugendliche Randgruppen aus der Gesellschaft ausflippen, und wie man ihnen helfen könnte. Eine allgemein positive Reaktion auf Degeners Informationen und Überlegungen ist kaum zu erwarten; aber einige Leser seines Buches könnten nachdenklich werden, Vorurteile abbauen. Das wäre ein kleiner Schritt nach vorne. Denn ohne Umdenken der Öffentlichkeit gegenüber den hier angeschnittenen Problemen bleiben schließlich die gescheitesten Erkenntnisse von Fachleuten wirkungslos.

MUCKEFUCK. Roman von Georg Lentz. C. Bertelsmann, München, 332 Seiten, öS 200.20.

HEIMSUCHUNG. Roman von Volker W.Degener. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 185 Seiten, öS 188.65.

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