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Zweimal „Fin de siecle“

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Zwei Neuerscheinungen im Rahmen der wissenschaftlichen Sichtung der Jahrhundertwende, beide mit dem bewußt gewählten Titel „Fin de siecle“, liegen jetzt vor, weil eben dessen Lebensgefühl aufgeschlüsselt werden soll. Gleichzeitig wird damit auch angedeutet, daß bei einer solchen Untersuchung der Blick über ein einziges Land hinausgehen muß, um zu erfassen, was zur Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Grundstimmung über ganz Europa hinwegzog.

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Zwei Neuerscheinungen im Rahmen der wissenschaftlichen Sichtung der Jahrhundertwende, beide mit dem bewußt gewählten Titel „Fin de siecle“, liegen jetzt vor, weil eben dessen Lebensgefühl aufgeschlüsselt werden soll. Gleichzeitig wird damit auch angedeutet, daß bei einer solchen Untersuchung der Blick über ein einziges Land hinausgehen muß, um zu erfassen, was zur Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Grundstimmung über ganz Europa hinwegzog.

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Begriffe haben nicht nur ordnende Eigenschaft, sondern schließen auch ein Umfeld von Andeutungen und Beurteilungen ein. Fin de siecle - schon um 1890 als Modewort in ganz Europa aufgegriffen - wird im deutschen Sprachgebiet gerne in gleichgesetzter Bedeutung zur Jahrhundertwende gebraucht, ohne die Gültigkeit vom eigentlichen Wortgehalt her zu befragen. Das Wort übt seit je den geheimnisvollen Reiz einer Formel aus, für etwas nicht konkret Bestimmbares, und wurde noch am knappsten von Thomas Mann beschrieben als „auf jeden Fall eine Formel für das Gefühl des Endes, des Endes eines Zeitalters“.

Wie dieses Gefühl sich in vielfältigen Variationen in Literatur und Kunst niederschlug und in deren Wechselwirkung Motive und Stilformen prägte, ist Ziel der Betrachtung des umfassenden Werkes „Fin de siecle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende“, eines Sammelbandes mit 28 Beiträgen. Er stellt das durchwegs geglückte Ergebnis eines von der Fritz Thyssen-Stiftung unterstützten Forschungsunternehmens zum 19. Jahrhundert dar und vermittelt in der Zusammenarbeit von renommierten Fachleuten der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte ein faszinierendes Bild des Zeitabschnitts zwischen 1880 und 1914.

Zusammengesetzt wird dieses Bild von pessimistischen Stimmen der Zeit zum materialistischen Fortschrittsglauben, zur geistigen Nivellierung, allgemeinhin Diagnosen der Dekadenz in einer altersrriüden Kultur. Demgegenüber Werden jedoch auch Gegenkräfte sichtbar gemacht, die sich als Heilsvorstellungen politischer, mystisch-religiöser oder künstlerischer Ausrichtung vordrängten. Denn wie überzeugend in einem Beitrag über „Ende und Neubeginn“ herausgestellt wird, mischten sich in die übermächtige Untergangsstimmung des Fin de siecle gleichzeitig die Vorstellungen eines neuen Lebens. Geht es um das Bestreben der Veränderung des Menschen durch die Kunst, so wird dies nicht nur im Zusammenhang mit dem Jugendstil herausgearbeitet, sondern auch in neuen Zugängen, wie der Aufsatz über den „Leonardo- und Giorgione-Kult“ dokumentiert. Auch hier wieder die Wechselwirkung von Kunst ^d Literatur, denn die Hinwendung zu Giorgione als ein Teil des so oft gestalteten Venedig-Erlebnisses ist bis in den Sprachstil der Dichter hinein fühlbar, wie unter anderem bei Hofmannsthal und Schaukai nachgewiesen wird.

Anderseits gilt die Aufmerksamkeit auch den Formen der Überwindung des visionären Ästhetizismus, darunter als ein bis jetzt meist übergangener Aspekt „Die Wiederkunft des Barock“. Jeder der behandelten Ideenkomplexe bezieht gleicherweise geschichtliche, soziologische und kunstimmanente Entwicklungen ein, so daß die Aufsätze in ihrer fachlich übergreifenden Vorgangsweise auch für den NichtSpezialisten zur wertvollen Lektüre werden.

Bietet der Sammelband eine breite Überschau, so geht das Buch „Fin de siecle. Gestalten und Mythen“ von Hans Hinterhäuser einer ganz spezifischen Entwicklungslinie innerhalb der vielen Erscheinungen der Epoche nach. Anhand von Texten aus mehreren europäischen Literaturen veranschaulicht die Untersuchung, daß die mit dem Fin de siecle verbundenen Lebensängste und apokalyptischen Vorstellungen ein Zurückgreifen auf mythisch-religiöses Gedankengut auslösten, das wiederum mit zeittypischen Gegebenheiten verschmolzen wurde. Daraus schließt Hinterhäuser als Ausgangspunkt seiner Betrachtung die Feststellung, daß das Endzeitgefühl ganz bestimmte Leitfiguren schuf, an die Erlösungsvorstellungen geknüpft werden konnten: die in den literarischen Zeugnissen der Zeit neubelebte Christusgestalt, als Ausdruck der religiösen Unruhe, der prä-raffaelitische Frauentypus, der in der Literatur als Abbild der Madonnenverehrung immer wieder auftritt, bis hin zum Religionsersatz in Form des Dandyismus und des Ubermenschentums und dem Rückgriff auf heidnisch-mythologische Figuren, die Zustände des Archaischen versinnbildlichen sollten. Sie alle zeigen die Versuche der damaligen Autoren, „die Oberflächendimension der Realität zu durchstoßen“. In sechs thematisch geschlossenen Kapiteln wird mit profunden Literaturkenntnissen die Gedanken- und Empfindungswelt der spezifischen Zeitlage der Jahrhundertwende bloßgelegt, die verwurzelt ist in den „Spannungen zwischen dem Individuum und einer aus den Fugen geratenen, unfreundlich gewordenen Welt“.

Aus den Entgegnungen auf diese Spannungen wird deutlich, wie sehr das Bedürfnis nach einem tieferen Weltverständnis im Menschen verankert ist. Dies mit sorgfältigen Interpretationen erneut bewußtzumachen, ist der Wert des Buches, das nicht in den Rahmen einer bloß literarhistorischen Studie einzuordnen ist.

FIN DE SIECLE. ZUR LITERATUR UND KUNST DER JAHRHUNDERT-WENDE. Herausgegeben von Roger Bauer, Eckard Heftrich, Helmut Koopmann, Wolfdietrich Rasch, Willibald Sauerländer und J. Adolf Schmoll. Vittorio-Klostermann-Ver-lag, Frankfurt/M. 1977, 641 Seiten, öS 1216,60

FIN DE SIECLE. GESTALTEN UND MYTHEN. Wilhelm-Fink-Verlag, München 1977, 233 Seiten, öS 61,60.

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