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Zwickmühle der Bildungspolitik

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Genaugenommen — wenn auch vielleicht etwas hart formuliert — werfen wir Talente und Geld beim Fenster hinaus. Gewiß hat Österreich auf dem Bildungssektor einiges nachzuholen. Die „Bildungsexplosion“, welche bei uns in der Mitte bis gegen Ende der sechziger Jahre unser Bildungssystem erschüttert und zu Reformplänen Anstoß gegeben ‘hat, hat sicherlich ihre guten Seiten. Die Schülerzahlen an höheren Schulen und Hochschulen sind rapid angestiegen, immer mehr junge Österreicher bekommen höhere Bildung vermittelt.

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Genaugenommen — wenn auch vielleicht etwas hart formuliert — werfen wir Talente und Geld beim Fenster hinaus. Gewiß hat Österreich auf dem Bildungssektor einiges nachzuholen. Die „Bildungsexplosion“, welche bei uns in der Mitte bis gegen Ende der sechziger Jahre unser Bildungssystem erschüttert und zu Reformplänen Anstoß gegeben ‘hat, hat sicherlich ihre guten Seiten. Die Schülerzahlen an höheren Schulen und Hochschulen sind rapid angestiegen, immer mehr junge Österreicher bekommen höhere Bildung vermittelt.

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Allerdings deshalb zu frohlocken, daß wir Österreicher im Gleichschritt der Bildungsgesellschaft entgegenmarschieren, ist Vorrecht der Politiker. Denn die Quantität gibt keinen Aufschluß über die Qualität. Und unter Qualität soll hier verstanden werden, daß jeder nicht irgendeine Bildung vermittelt bekommt, sondern eine, die seiner Begabung und seinem Talent entspricht.

Bekanntlich wurde in den letzten Jahren das allgemeinbildende höhere Schulwesen mit großem Aufwand gefördert. Das ist begrüßenswert. Nur: Hand in Hand damit wurde das berufsbildende Schulwesen vernachlässigt. Der Grund für diese Entwicklung ist sicher nicht darin zu suchen, daß der Bau eines Gymnasiums billiger ist als der einer höhe ren berufsbildenden Lehranstalt, obwohl wahrscheinlich auch in wenigen Fällen diese Überlegungen eine Rolle gespielt haben. Der Grund liegt eher in der Mentalität der Öffentlichkeit, die nach dem Grundsatz „Bildung ist Bildung" urteilt, ohne zu differenzieren. Vor allem im sozialistischen Lager mußten erst grundsätzliche Vorurteile gegen höhere Bildung abgebaut werden.

Mit der zahlenmäßigen Zunahme der allgemeinbildenden höheren Schulen stieg automatisch die Besucher- und Maturantenquote, im berufsbildenden Schulwesen stagnierte nicht nur die Entwicklung, sondern der Maturaanteil — und das ist bedenklich — fällt sifgar bis zur Stunde. Während noch im Schuljahr 1955/56 57 Prozent aller Maturanten vom Gymnasium kamen und immerhin 31 Prozent von berufsbildenden höheren Lehranstalten, so erwartet man für das heurige Schuljahr 75 Prozent der Maturanten vom Gymnasium und nur noch 25 Prozent von berufsbildenden höheren Lehranstalten. Und wenn man — bei Anhalten des Trends — eine Prognose für 1980 wagt, so wird das Mißverhältnis noch deutlicher: In zehn Jahren werden sich von 100 Maturanten 80 Gymnasiasten und 20 „Beruf ler“ gegenüberstehen.

Dazu ist weiters anzumerken, daß heute zwischen 70 und 90 Prozent der Maturanten aus dem Gymnasium und 20 bis 25 Prozent der Maturanten aus den berufsbildenden Schulen eine Hochschule besuchen. Was aber für den beruflich vorgebildeten Maturanten eine noch hochwertigere Ausbildung ist, ist in diesem Fall für den Absolventen eines Gymnasiums erst eine Berufsorientierung. Klar: Er hat zwar die Matura, aber keinerlei berufliche Voraussetzungen, muß sich also erst an der Hochschule spezialisieren.

Letzten Endes ist diese Entwicklung aber auch recht kostspielig: Im Schuljahr 1969/70 hatten wir für einen Hochschüler 36.028 Schilling, für einen Gymnasiasten 11:904 Schilling, für einen Schüler einer höheren technischen Lehranstalt 26.468 Schil ling und für einen Handelsakademiebesucher 16.058 Schilling aufzubringen. Ein Absolvent eines Gymnasiums muß also für eine qualifizierte Berufsausbildung an die Hochschule gehen: Und damit summieren sich die Kosten. In der Endabrechnung wird er dann — wie vorher angeführt

— für Aufgaben eingesetzt, die ein beruflich vorgebildeter Maturant ebenso erfüllen könnte, obwohl seine Ausbildung überdurchschnittlich „teuer" kommt.

Eine glaubwürdige Bildungspolitik muß also neben den Bildungs- auch die Berufschancen berücksichtigen. Vielen wäre mehr geholfen, wenn sie anstatt freier Schulfahrt eine fundierte Bildungsberatung in Anspruch nehmen könnten. Und eine solche kostet auch etwas. Zwar wäre das Ansinnen weniger spektakulär, doch — auf weite Sicht gesehen — nützlicher.

Vielversprechend sind hingegen die Pläne, durch die mit einer postsekundären Ausbildung — nach der Matura für eine direkte Berufsqualifikation — neue Möglichkeiten erschlossen werden sollen. Dadurch würden nicht nur die Akademikerbildung entlastet, sondern gleichzeitig dem Maturanten fehlende Chancen eröffnet.

Vielleicht auch, deshalb, weil sich unsere Bildungspolitik in einer Zwickmühle befindet: Auf der einen Seite steht das Recht des einzelnen Staatsbürgers, sich für Bildung und Bildungsweg frei entscheiden zu können, auf der anderen Seite steht der Bedarf an Ausgebildeten.

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