6852354-1976_52_12.jpg
Digital In Arbeit

Zwischen Gesinnung und Anschauung

Werbung
Werbung
Werbung

Heimito von Doderer pflegte zu sagen, daß die Sprache, im Gegensatz zur Musik und zur Malerei, auf zweierlei Weise anwendbar sei: gestaltweise und zerlegungsweise. Dies nützend, hat er nicht nur erzählt, sondern auch seziert, vor allem im Tagebuch. Ja, er ging oft im Gespräch so weit, apodiktisch zu postulieren, der Schriftsteller müsse unbedingt Tagebuchschreiber sein, ohne Tagebuch ginge es gar nicht...

Anderseits aber lebt Doderers Epik durchaus nur von dem, was er, nach seinem Lehrer Hermann Swoboda, „freisteigende Vorstellungen“ genannt hat; von dem, was aus der Tiefe des Vergessens zwar scheinbar unmotiviert, in Wahrheit aber zeitgerecht, situationsgerecht wieder auftaucht. Er drückt sich, erzählend, zwar aus im „Jargon der Kausalität“, vertraut aber auf die höhere Wahrheit der scheinbar launischen, tatsächlich sinnträchtigen Assoziationen.

Wenn diese These, daß Erfahrenes erst auf dem Umweg übers Vergessen zu Literatur werden kann, auch nur halbwegs richtig ist - und sie dürfte schon deshalb stimmen, weil beL direkter Ubersetzung einer Sache in Sprache nicht Kunst, sondern Journalismus herauskommt, „Zeitung zwischen Buchdeckeln“, wie Werfel und eben auch Doderer das genannt haben; wenn diese These stimmt, dann kann das Tagebuch einem Schriftsteller nicht nur nicht nützen, sondern es muß ihm geradezu schaden.

Denn das zuerst einmal zu Vergessende wird, durch das Schreiben ins Tagebuch, nicht eben wirküch vergessen, sondern, im Gegenteü, festgehalten, vor dem Vergessen bewahrt, ja geradezu mumifiziert, und kann in das Werk nicht mehr einfließen oder ein-schießen, sondern darin gleichsam nur noch zitiert werden. Tagebuch führen soll ein verliebtes Mausi, nicht ein Schriftsteller, welcher dadurch die Wiederkehr des Vergessenen - hier ist das Modewort wörtlich am Platze -manipuliert. Das Tagebuch zeugt, was auch immer es berge, von Hypochondrie: als ob Gedachtes, Gefühltes, Ge-schautes je verlorengehen könnte! Wahrhaft reich aber ist, und zwar gerade auch in der Kunst, der Verschwender und nicht der Sammler.

Und ewig ärgerlich bleibt das Dilemma, für wen der Schriftsteller denn nun sein Tagebuch führe. Je lauter er kundtut: nur für sich selber, desto begierlicher und zugleich ängstlicher schielt er aufs Publikum, lügt also diesem wie sich in den Sack. Das Tagebuch, wie's hier gemeint ist, steht un-dezidiert zwischen Dichtung und Brief: zwischen dem, „was nur jetzt oder nie mehr, und nur von uns und von keinem andern gesagt werden kann“ - so Gütersloh-, also gleichsam ins leere All gesprochen wird, also keinem wie jedwedem Hörer fortan zur Verfügung steht; und dem, was an einen bestimmten Empfänger konkret adressiert ist. Doderer selber liefert uns den Beweis: „Ein wirkliches Tagebuch wird zuletzt nur dem Verfasser verständlich sein“, notiert er am 17. April 1955, und beginnt zu derselben Zeit die Publikation der „Tangenten“, des Tagebuchs 1940 bis 1950, vorzubereiten.

Die „Tangenten“ bilden im wesentlichen den reflektierenden Begleittext zu der in jenem Jahrzehnt entstandenen „Strudlhofstiege“; die jetzt von Wendelin Schmidt-Dengler aus dem Nachlaß gehobenen „Commentarii 1951 bis 1956“ laufen parallel zu der Fertigstellung der „Dämonen“ und sind entsprechend weniger saftig, entsprechend trockener. Doch wer zu lesen versteht, wird sehr wohl auch aus diesem Trockenen schöpfen können: vor allem die Ahnung davon, wie der Schaffensprozeß zuinnerst verläuft, was er fordert an (der dann im Werk nicht mehr sichtbaren) Leistung und, vorher schon, an Verzicht.

Da eröffnet Doderer manchmal Einsichten, neben denen fast harmlos banal wirkt, was der große Flaubert seinem großen Schüler Maupassant mit auf den Weg gegeben hat: „Für einen Künstler gibt es nur einen Grundsatz: alles der Kunst opfern. Das Leben darf ihm nur noch ein Mittel sein, nicht mehr.“ Sehr viel schrecklicher - aber auch nicht abschreckend, leider -heißt das bei Doderer (unter dem 29. März 1954): „Was die Leute meinen, interessiert den Schriftsteller nur im Vorübergehen; aber in das, was sie leben: da hinein will er sich versenken. Denn es muß sein vielgestaltiges Eigentum werden und sein Ersatz fürdie eine Gestalt, die ihm für immer verloren ist, an welcher er nie mehr bauen und bilden wird können: die eigene.“

Und daraus folgt, was am 12. Juni 1955 notiert wird: „Verkehrt ist sicher, bei Aussetzen des grammatischen Ef-fluxes auf diesen zu warten und untätig zu bleiben. Denn die Mitte unserer Mühe liegt ja im prae-grammatischen Raum. Nur innerhalb seiner können wir eigentliche Arbeit leisten: hat uns die Grammatik einmal beim Kragen, so geht's dahin, und sie arbeitet für uns.“

Wie das praktisch vor sich geht, erfahren wir allerdings kaum. „Zu keinem der Romane Doderers verfügen wir“, sagt der Herausgeber, „über einen vergleichbar ausführlichen Selbstkommentar wie zu den .Dämonen' .. . Doch muß festgehalten werden, daß das, was Doderer in seinem Tagebuch darüber mitteilt, stets in hohem Maße filtriert ist... Doderer will das Biographische angesichts der angestrengten Bemühung um ein Allgemeines relativieren. Es ist paradox, daß dabei gerade das, was Doderer besonders am Herzen hegt, die Apperzeption, die Erfassung der Außenwelt, darunter leidet, daß er versucht, sich die Grundlagen dafür definitorisch zu erarbeiten. Indem er um die Begriffe ringt, verliert er oft jene Anschaulichkeit, die er preisen will.“

In der Tat kommentieren die „Commentarii-1951 bis 1956“ nicht die „Dämonen“ und nicht einmal ganz direkt deren Autor, sondern des Menschen Heimito von Doderers Ringen darum, deren Autor werden und sein zu können. „Spät erst“ - am 20. April 1953, immerhin schon im siebenundfünfzigsten Lebensjahr, konstatiert er das - „befreundete ich mich mit dem Leben. Ich hatte es stets gegen den Strich gebürstet, es ganz gegen die ihm innewohnende Mechanik zu rationalisieren versucht; um es auszuschließen, um ihm zu entrinnen. Um geradezu davon abzubrechen.“ Er hatte das Leben, sein eigenes wie das Leben schlechthin, aber nicht bloß rationalisiert, sondern viel umfänglicher ideo-logisiert. Aber er rückt nun nicht ab von jenen „Gesinnungen“, jenen „Meinungen“, denn selbst bei weitestem Abrücken blieben sie immer noch stehen und bestehen. Er will und betreibt deren Einsturz, wie die Notiz vom 25. April 1956 zeigt: „Ich hatte mir frühzeitig schon den Konsum von Sensationen angewöhnt, so wie etwa das Zigarettenrauchen, und ich ideo-logisierte sie obendrein. Aber aus solchen isoliert dahinwankenden Konzepten ein anekdotisches Continuum (ganz zu schweigen von einem geordneten Prozeß) hintnach auferbauen zu wollen, ist vollends töricht. Dies Gerüst mag zusammenbrechen, und mir ist im Chaos, welches ich da sehe, bei weitem mehr Deutlichkeit als in jeder hintnach zur Selbst-Rechtfertigung hineingebrachten Ordnung.“

Die Passage darf sehr wohl auch verstanden werden als die Beschreibung der Art und Weise, in der Heimito von Doderer seine im engeren Wortsinn politischen Irrungen - er war Mitglied der illegalen NSDAP -für sich bewältigt hat. Genau so gemeint aber ist damit auch das Verfahren, in dem das Konzept der „Dämonen“, die 1937 ja fast zur Hälfte schon druckfertig vorlagen, nun, ein rundes Vierteljahrhundert danach, revidiert worden ist.

Allerdings „finden sich keine Änderungen, die auf eine ideologische Umorientierung schließen lassen“, erklärt der mit Werk und Nachlaß innigst vertraute Herausgeber. Nicht „entnazifiziert“ mußte werden, weder im Leben noch im Roman, sondern weitaus mehr war zu leisten, nämlich: herauszufinden und darzustellen, was denn die Ursachen seien für all jene letztendlich gleichen Wirkungen, de ren nur eine der Nationalsozialismus mit seinem totalen Staat gewesen; wobei die leichtest begreifbare Analogie überraschenderweise im aller-intimsten Bereich, in der Sexualität, sich zeigte: wenn hier wie dort gegen das Tatsächliche in seiner nie einplanbaren Fülle und Vielfalt eine Meinung gesetzt und diese obendrein auch noch verabsolutiert wird, wovon der damals entstandene Essay „Sexualität und totaler Staat“ aber auch manche Notiz, so diese vom 30. September 1951, handelt: „Geschmack, im Sinne einer Geschmacksrichtung ist die a-logische Form, eine Meinung zu haben; die logische ist um nichts vernünftiger. .Meinungen sind Hämorrhoiden des Geistes', schrieb ich einmal: dieser ist eben zu lange irgendwo sitzen geblieben. Und wer etwa einen ganz ausgeprägten Geschmack im Sexuellen hat, ist vom Wege abgekommen und zu lange liegen geblieben.“

Die Lehre lautet: nicht aus einer Gesinnung, sondern aus der Anschauung heraus zu leben; konkret für den Schriftsteller: „Ich bin zutiefst Naturalist“ - in der Technik natürlich nur, nicht aber in der Gesinnung, wie Doderer andernorts ganz dezidiert erläutert -; „ich begann so: mit meinen ,Studien nach der Natur' (viele Hunderte). Wir müssen im Empirischen bleiben; es ist unsere Kategorie; alles andere führt zu irgendwelchem Meinen - also in die Nähe der .Sinnigkeit'. ,Wie es wirklich gewesen ist.. .'.dieses im ersten Hinblick flach erscheinende Wort Ranke's gilt auch für den Romancier“. Und weiter unter dem 15. März 1954: „In der wirklichen Replastizie-rung werden die aufgeweichten Strecken unseres Lebens als Sümpfe erkannt, und ihr Aushauch als ein Mückenschwarm.“

Und auf die Lehre folgt die Bekehrung, so notiert unterm 14. April 1951: „Wer zur Sprache sich bekehrt, bekehrt sich zur Wahrheit, und wer sich zur Wahrheit bekehrt, der tut's auch zur Objektivität hin. Für mich verlöre alles Schreiben den Reiz und Stachel, wenn ich nicht immer wieder hoffte, mich damit aus der Welt zu schaffen -samt meiner Schreiberei - und jene gerade durch diese, und dadurch, daß ich mich eliminiere, zu bewältigen. Die Objektivität ist der höchste aller Reize und der eigentliche Beginn aller Kunst, die ein hochdiskretes geistiges Verhalten genannt werden darf“ -womit, übrigens, schon der „roman muet“ theoretisch sich ankündigt, Doderers „stummes“ Spätwerk „Roman No. 7“, über welchem er selber dann gänzlich verstummt ist.

Aber welche Umwege, offenbar doch eben auch übers Tagebuch, mußten gegangen werden! Da steht, unterm 20. Jänner 1951, wieder einmal Heimito von Doderers ewiges Credo von dem Primat des Formalen, der von ihm (nachweisbar fälschlich) behaupteten apriorischen Komposition: „Habe einer was immer an Uberzeugungen und all solchem Zeug: wie er's hat, darauf kommt's an, auch hier auf das Wie. Man kann den undichterischesten Kram dichterisch haben -und man hat's gemacht. Es ist unmöglich, ein Autor zu sein dem Gegenstande nach, wohl aber möglich, einer zu sein bei unmöglichem Gegenstande oder auch Denk-Inhalte.“

Und dieser unrichtig ausgedrückte richtige Sachverhalt wird dann, kaum ein Jahr später, am 25. November, wiederum unrichtig korrigiert: „Das

Inhaltliche sei mir heut' alles: das Formale wird hinzugegeben, versteht sich sodann von selbst.“ Unrichtig insofern, als das Was sowieso stets gegeben ist: als erfahrenes eigenes Schicksal und als erfahrene Umwelt. Und auch insofern, als das Formale sich offenbar dann nicht von selbst versteht, wenn es Anlaß gibt, Tagebuch eben darüber zu führen. Erst wenn man, mehr dem Praktiker als dem Theoretiker Doderer folgend, die „Form als die Entelechie des Inhalts“ begreift und mehr als begreift, nänüich lesend erfährt: erst dann sind beide: Form und Inhalt, gleich selbstverständlich. Und, wie das ganze Oeuvre Heimito von Doderers lehrt wie wohl kaum ein zweites in diesem Jahrhundert: gleich geheimnisvoll.

HEIMITO VON DODERER: COM-MENTARII1951 BIS 1956. Tagebücher aus dem Nachlaß. Herausgegeben von V/endelin Schmidt-Dengler. 596 Seiten, DM 68.-. Biederstein Verlag, München 1976.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung