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Zwischen Kaiser Karl und Herrn Karl

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Der Leser verzeihe, daß ich diesen Beitrag mit einer kleinen persönlichen Erinnerung beginne: Es war an einem Frühlingstag des Jahres 1922. Ich trottete aus der Schule nach Hause, sicherlich den Kopf voller Lausbübereien. Zwei stämmige Männer überholten mich. Der eirie hatte O-Beine und war sehr unrasiert. Sie unterhielten sich heftig im Wiener Dialekt. Deutlich noch höre ich ihre Worte, die sie sprachen, als sie an mir vorbeigingen: „Jetzt ist auch der Herr Karl gestorben.“ Als ich nach Hause kam, erzählte die Mutter, daß Österreichs letzter Kaiser gestorben sei. Ich hatte damals keine Ahnung, wer Österreichs letzter Kaiser gewesen war, und ich ahnte noch weniger, daß diese zwei Männer auf meinem Schulweg vom Tod dieses letzten Kaisers auf Madeira gesprochen hatten. Diese beiden Männer selbst ahnten wohl nicht, daß ihre Bemerkung einstens anders aufgefaßt werden könnte. Denn sie sprachen von einem gewissen Herrn Karl, und die Zeit zeigte inzwischen, daß wohl ein Kaiser gestorben war, daß aber „Herr Karl“ weiterlebt und wahrscheinlich noch lange weiterleben wird. Gestorben war Kaiser Karl, oder richtiger gesagt: der Kaiser des Herrn Karl, oder noch richtiger: der Herrscher, der ein Herz für die kleinen Leute hatte.

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Der Leser verzeihe, daß ich diesen Beitrag mit einer kleinen persönlichen Erinnerung beginne: Es war an einem Frühlingstag des Jahres 1922. Ich trottete aus der Schule nach Hause, sicherlich den Kopf voller Lausbübereien. Zwei stämmige Männer überholten mich. Der eirie hatte O-Beine und war sehr unrasiert. Sie unterhielten sich heftig im Wiener Dialekt. Deutlich noch höre ich ihre Worte, die sie sprachen, als sie an mir vorbeigingen: „Jetzt ist auch der Herr Karl gestorben.“ Als ich nach Hause kam, erzählte die Mutter, daß Österreichs letzter Kaiser gestorben sei. Ich hatte damals keine Ahnung, wer Österreichs letzter Kaiser gewesen war, und ich ahnte noch weniger, daß diese zwei Männer auf meinem Schulweg vom Tod dieses letzten Kaisers auf Madeira gesprochen hatten. Diese beiden Männer selbst ahnten wohl nicht, daß ihre Bemerkung einstens anders aufgefaßt werden könnte. Denn sie sprachen von einem gewissen Herrn Karl, und die Zeit zeigte inzwischen, daß wohl ein Kaiser gestorben war, daß aber „Herr Karl“ weiterlebt und wahrscheinlich noch lange weiterleben wird. Gestorben war Kaiser Karl, oder richtiger gesagt: der Kaiser des Herrn Karl, oder noch richtiger: der Herrscher, der ein Herz für die kleinen Leute hatte.

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Kaiser Karl hatte während seiner kurzen Regierungszeit, aber auch noch viele Jahre nach seinem Tod eine schlechte Presse. Aber je mehr Jahre seit seinem einsamen, traurigen Sterben auf Madeira vergangen sind — es sind jetzt genau fünfzig Jahre —, desto mehr werden, insbesondere durch die Arbeiten der Historiker, die hellen Seiten dieses Menschenlebens immer mehr sichtbar. Er, der soviel Geschmähte, erscheint nun doch als ein großes politisches Talent, und vor allen Dingen als ein Herrscher, der seiner Aufgabe gerecht zu werden versuchte. *

Kaiser Karl war nach einer langen Reihe von Herrschern wieder ein echtes politisches Talent auf dem Thron der Habsburgermonarchie. Mit Josef II. beginnen die Lothringer im Donaureich zu herrschen. Die Lothringer waren allesamt keine besonders guten Politiker, aber hervorragende Könner der Verwaltung. Die Reformen Josefs IL, wie die Aufhebung der Leibeigenschaft und das Toleranzpatent, sind erstklassige Leistungen einer Verwaltungskunst, die aus dem Leben der habsburgi-schen Länder nicht mehr wegzudenken waren. Josefs Bruder Leopold II. schuf in seinem Großherzogtum Toskana einen Musterstaat, der im 18. Jahrhundert nicht seinesgleichen hatte. Franz I. wiederum war nicht nur der höchste und beste, sondern auch der fleißigste Verwaltungsbeamte seines Reiches, und nicht minder war Franz Joseph der beste Sektionschef, den seine Monarchie aufzuweisen hatte. Seine Verwaltungsreformen, die er als junger, absoluter Monarch ins Leben rief, erwiesen sich als so hervorragend, daß sie alle politischen Änderungen überlebten, in Österreich heute noch wirksam sind und in den übrigen Nachfolgestaaten erst durch die kommunistischen Umstürze verschwanden. Franz Ferdinand war der erste Vollblutpolitiker nach dieser langen Reihe von Verwaltungsgenies. Aber er kam nicht wirklich zum Regieren. Seine Ermordung verhinderte es, daß er den Thron bestieg.

*

Auch Kaiser Karl war ein echtes politisches Talent. Seine Maßnahmen in den beiden Jahren seiner Regierung beweisen es. Natürlich machte er Fehler. Aber alle jene, die ihn mit Franz Joseph vergleichen, vergessen, daß dem jungen Franz Joseph in den ersten Jahren und Jahrzehnten seiner Regierung unendlich viel mehr Fehler unterliefen. Kaiser Karl war zu früh, mit zu kurzer Lehrzeit, Staatsoberhaupt geworden. Und er hatte auch nicht das Glück, das dem jungen Franz Joseph zuteil wurde, der in den WIR-Gene-ralen (Windisch-Graetz, Jellacic, Radetzky) hervorragende Militärs und in Schwarzenberg einen nicht minder hervorragenden Ministerpräsidenten besaß. Kaiser Karl dagegen war ständig auf der Suche, endlich jene Traumminister zu finden, die seine Pläne durchführen konnten. Sein Außenminister, Graf Czernin, erreichte teilweise diese Vorstellungen, aber dieser Mitarbeiter benahm sich dermaßen präpotent und illoyal seinem Monarchen gegenüber, daß er schon aus diesem Grunde nicht die Vorstellungen seines Herrschers erfüllen konnte. Sein letztes österreichisches Kabinett, mit dem weltberühmten Juristen und Pazifisten Lammasch an der Spitze, mit Seipel als Sozialminister und Redlich als Finanzminister, entsprach wahrscheinlich am meisten seinen Wünschen. Aber es war bereits zu spät.

Kaiser Karl kam in einem Augenblick zur Regierung, da die Situation der Monarchie, und der Mittelmächte überhaupt, bereits so gut wie hoffnungslos war. Nur wollten dies die oberste deutsche Heeresleitung und auch viele Kreise der Donaumonarchie nicht wahrhaben. Im Jahre 1848, als Franz Joseph die Regierung antrat, und 1740, da Maria Theresia zur Herrschaft kam, war die Situation der Monarchie nicht annähernd so hoffnungslos wie 1916. Es zeigte das politische Talent des Kaisers, daß er diese hoffnungslose Situation erkannte und wußte, daß nur der Friede, selbst wenn er mit großen Opfern erkauft werden mußte, noch die Monarchie retten konnte. Die zwei Jahre, die ihm zum Herrschen verblieben, waren im Grunde nur von dem einen Gedanken beseelt: den Frieden herbeizuführen. Den Frieden herbeizuführen, um die Monarchie zu retten, aber vor allem auch, um der Menschheit weiteres Leid zu ersparen. Dieser so vielgeschmähte Kaiser erfaßte instinktiv die wahre Aufgabe eines Herrschers: Schützer der Gerechtigkeit und Hort der Menschlichkeit zu sein. Und insbesondere: den kleinen Mann zu schützen, der wehrlos ist gegen alle Erpressungen der Mächtigen dieser Welt. Wenige Menschen des heutigen Österreich werden sich erinnern, daß das röteste aller roten Ministerien, das Sozialministerium, unter Karls Regierung geschaffen wurde, und zwar als erstes Sozialministerium der Welt! Wenige Menschen der heutigen Zeit werden noch daran denken, daß die Mieter-schutzgesetzgebung durch seine Initiative entstand. Die große Amnestie des Jahres 1917, die Wiedereinberufung des 1914 beschlossenen österreichischen Parlaments, die Einführung des Duellverbotes, die Begnadigung fast aller zum Tod Verurteilten, die Zurverfügungstellung der Hofpferde für die Wiener Kohlenversorgung — das alles waren Maßnahmen zum Schutze der Menschen und vor allem zum Schutze des kleinen Mannes, des „Herrn Karl“. Vielfach wurden sie dem Kaiser sehr übelgenommen, ebenso wie ihm angekreidet wurde, daß er im November 1918 und auch im Oktober 1921 nicht auf die Revolutionäre schießen ließ, um so vielleicht die Monarchie zu retten oder das Königtum in Ungarn wiederzugewinnen. Er kapitulierte lieber vor einem Ersatzkönig, wie Horthy einer war, als in taktisch aussichtsloser Lage ungarisches Blut durch Ungarn vergießen zu lassen. Aber gerade im letzteren Fall zeigte es sich, daß die Weltgeschichte doch sehr oft ein Weltgericht ist. Horthy, der abtrünnige Reichsverweser Ungarns, der seinen König mit Waffengewalt aus dem Land jagte und ihn einem Tod in Armut entgegenschickte, wurde selbst mit Waffengewalt aus seinem reaktionären Operettenkönigreich vertrieben und starb im selben portugiesischen Exil, in das er einst seinen König deportieren ließ. *

Die Nachwelt hat von Kaiser Karl viel Unsinniges, einander Widersprechendes erzählt. Für die Deutschnationalen Österreichs, für die großen und kleinen Hitlers, war er eine Art von Schießbudenfigur, und weite Kreise der Reichsdeutschen, vor allem die Militärs, sahen in ihm eine Figur, auf die man nur zu gut alle eigene Schuld am verlorenen Krieg abwälzen konnte. Nur zu viele haben ihn auch nur deshalb abgelehnt, weil er nicht eine jüngere Ausgabe Franz Josephs war, als ob er nicht das Recht und die Pflicht gehabt hätte, seinen eigenen, moderneren Weg zu gehen. Sein eigener Weg war es, zu erkennen, daß es nicht Aufgabe eines Staatsoberhauptes sein kann, den Ministerpräsidenten zu spielen oder den Feldherrn, der ohne Rücksicht auf jedwede (Menschen-) Verluste seine egoistischen Ziele durchsetzt, sondern daß es die Aufgabe eines königlichen Menschen ist, seine Mitmenschen zu schützen; insbesondere die Kleinen, die fast ohne Hilfe durchs Leben gehen müssen. Die „Herren Karl“, deren Frauen und Kinder.

Man sagt Österreich immer nach, daß es mit allem zu spät komme. Als Kaiser Karl am 1. April 1922 im Exil verstarb, ging ein österreichischer Herrscher von dieser Welt, der zu früh zum Zug gekommen war.

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