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Zwischen Koran und Revolution

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Obwohl es in Ägypten erst seit knapp zehn Jahren eine sozialistische Partei gibt, und die Ausbildung der Doktrin des „Arabischen Sozialismus“ nur wenige Jahre vorher eingesetzt hat, reichen die Ursprünge des sozialistischen Denkens am Nil doch mehr als ein Jahrhundert zurück. War es jedoch in Europa die Not der Industriearbeiterklasse, die Marx und andere Frühsozialisten unter Anwendung der materialistisch interpretierten Philosophie Hegels und mit von Anfang an internationalen Vorzeichen von einem Versuch zur Lösung der Arbeiterfrage zum Ausbau eines geschlossenen gesellschaftlichen und weltanschaulichen Systems geführt hatte, so herrschten in Ägypten ganz andere Voraussetzungen, ideologische Hintergründe und nationale Bindungen. Ausgelöst wurden die Anfänge des Arabischen Sozialismus von den feudalen Verhältnissen in einer rein agrarisch orientierten Wirtschaft und Gesellschaft.

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Obwohl es in Ägypten erst seit knapp zehn Jahren eine sozialistische Partei gibt, und die Ausbildung der Doktrin des „Arabischen Sozialismus“ nur wenige Jahre vorher eingesetzt hat, reichen die Ursprünge des sozialistischen Denkens am Nil doch mehr als ein Jahrhundert zurück. War es jedoch in Europa die Not der Industriearbeiterklasse, die Marx und andere Frühsozialisten unter Anwendung der materialistisch interpretierten Philosophie Hegels und mit von Anfang an internationalen Vorzeichen von einem Versuch zur Lösung der Arbeiterfrage zum Ausbau eines geschlossenen gesellschaftlichen und weltanschaulichen Systems geführt hatte, so herrschten in Ägypten ganz andere Voraussetzungen, ideologische Hintergründe und nationale Bindungen. Ausgelöst wurden die Anfänge des Arabischen Sozialismus von den feudalen Verhältnissen in einer rein agrarisch orientierten Wirtschaft und Gesellschaft.

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Ägypten hatte erst die Erhebung der europäischen Bauern des 16. und die bürgerliche Revolution des 18. Jahrhunderts nachzuholen, ehe dort überhaupt eine Arbeiterschaft entstehen konnte. Ägyptens sozialistische Doktrin ist aus der islamischen Soziallehre entwickelt worden und folglich kaum je in Gegensatz zu Religion, Theismus oder Klerikalismus getreten. Wurde dem Arabischen Sozialismus durch seine Verbundenheit mit allen Gesellschaftsklassen und seine Ablehnung jedes Kulturkampfes eine Ausgangsposition in die Wiege gelegt, die von den sozialdemokratischen Ausläufern des Marxismus erst nach dem zweiten Weltkrieg erreicht werden konnte, so hat sich seine Verbindung mit dem arabischen Nationalismus hinwiederum als schwere Belastung für die eigentlich sozialen Anliegen erwiesen.

Als erster Vorläufer des Arabischen Sozialismus in Ägypten muß Rifa Badawi Ran at-Tahtawl (1801 bis 1873) genannt werden1. Wie Marx und Engels gehörte er als Sproß einer reichen Grundbesitzerfamilie der „Ausbeuterklasse“ an. Die französische Revolution von 1830, die er während eines fünfjährigen Studienaufenthalts in Paris erlebte, wurde für Tahtawi zum Wendepunkt. Streng auf islamischem Boden verbleibend, sind Tah-tawis Ideen eigentlich erst in der re-staurativen Phase des Arabischen Sozialismus in Ägypten unter Präsident Anwar as-Sadat nach 1970 zu einer Spätwirkung gelangt.

Die britische Besetzung Ägyptens im Jahre i882, die den Zuzug europäischer und levantinischer Geschäftsleute, Industrieunternehmer und Baumwollpflanzer einleitete, führte zur Ausprägung einer betont antiimperialistischen und erstmals auch antikapitalistischen Note im arabischen Frühsozialismus.

Das Eindringen des Kapitalismus schien auch durch Reform der herkömmlichen islamischen Soziallehre nicht mehr zu bewältigen zu sein. Aber immer noch war es kein Muslim, sondern der koptische Christ Salama Musa (1887 bis 1959), der einen Sozialismus darwinistischmarxistischer Prägung, in den sich aber auch Anleihen bei Nietzsches „Willen zur Macht“ mischten, in Ägypten heimisch zu machen suchte. Er hat auch das arabische Wort für Sozialismus, „Al-Ischti-rakia“, geprägt, das er als Titel über sein 1913 erschienenes Hauptwerk setzte4. Der Marxist Musa ist im

Arabischen Sozialismus Ägyptens jedoch ein Ausnahmefall geblieben. Seine unter den christlichen Kopten, Armeniern und Griechen der Großstädte Kairo und Alexandria zu findende Anhängerschaft wandte sich schon bald nach der russischen Oktoberrevolution dem Kommunismus zu, und Musa selbst widmete sich Fragen der darwinistischen Theorie5.

Aber auch die islamisch-soziale Reformbewegung verlor zusehends an Einfluß.

Die Reste der islamischen Erneuerer fanden bald Anschluß an die 1929 gegründete Organisation der Muslimbrüder (Gamia al-achwan al-muslimin). Unter der Führung ihres Organisators Hassan al-Banna (1906 bis 1949) übertraf dieses Mittelding zwischen religiösem Geheimbund und politischer Partei bald die säkularen Nationalisten an antibritischer Aktivität.

Die Machtergreifung der „Freien Offiziere“ am 23. Juli 1952 schien sich zunächst kaum durch eine klare soziale Programmatik auszuzeichnen. Was Gamal Abdel Nasser in seiner Programmschrift „Philosophie der Revolution“ über die wirtschaftliche Befreiung aussagte7, stand noch ganz unter antiimperialistischen und kaum unter antikapitalistischen Vorzeichen. Zwar wurden 1956 der Suezkanal und im Gefolge des um ihn entbrannten Krieges die englischen und französischen Großfirmen enteignet, doch blieb davon abgesehen fast zehn Jahre lang alles beim alten. Lediglich der ägyptische Altmarxist Salama Musa bewies ein Gespür für die sozialistischen Entwicklungen, die noch im Frühnas-serismus schlummerten. In seinem Spätwerk „Kitab at-thawrat“ (Buch der Revolutionen) frohlockt er über die Beseitigung „der „Giftpille Faruk'18, und kurz vor seinem Tode konnte er 1957 beruhigt feststellen, „daß ich gesiegt habe“9.

Dieser Sieg des Sozialismus in Ägypten begann mit den Besitzverteilungsgesetzen von 1961, wurde durch den ideologischen Unterbau der „Charta“ vom 21. Mai 1962 abgesichert und fand im selben Jahr mit der Schaffung der „Arabischen Sozialistischen Union“ (CASU) als Ei-heitspartei seinen Abschuß. Wie zu Beginn unseres Jahrhunderts standen sich dabei islamische und säkulare Sozialisten gegenüber. Die letzteren waren aber diesmal in der Vorhand.

Diese Gruppe hatte sich spätestens 1958 um die Kairoer idologische

Zeitschrift Ruz al-Jussuf („Josefsrose“) geschart. Einfluß erlangte sie bald auch auf die Tageszeitung „Aschbar al-Jawm“ („Tagesnachrichten“), die bis heute neben dem halbamtlichen „AI Ahram“ („Die Pyramiden“) und dem ASU-Zentralorgan „Al-Gumhuria“ („Die Republik“') das Sprachrohr der ägyptischen Linken geblieben ist. Damals umfaßte der säkular-sozialistische Flügel des Nasserismus Muslims, wie Ahmad Baha ed-Din oder Fathi Ganem, und Christen, wie den Kopten Louis Awad. Idologisch waren hier Sozialdemokraten, Marxisten und Kommunisten vertreten. Die beiden ersteren paßten sich nach und nach den speziellen ägyptischen Verhaltnissen an, während die Kommunisten bei der großen Säuberung von 1959 zum Handkuß kamen.

Aber auch der islamische Sozialismus erlebte in den Jahren vor Ägyptens sozialistischer Wende eine wenn auch nur bescheidene, Renaissance. Die islamischen Sozialisten konnten immerhin den Erfolg verzeichnen, daß bei den Gesetzen vom Juli 1961 der Moschee- und religiöse Stiftungsbesitz von der Verteilung des großen und mittleren Grundbesitzes, der Verstaatlichung der Schwer-, Textil- und Konsumgüterindustrie sowie des Großhandels ausgenommen blieb. In die ideologische Programmschrift des Arabischen Sozialismus, die „Charta“, fand die islamische Soziallehre aber so gut wie keine Aufnahme.

Mit der Konstituierung der „Arabischen Sozialistischen Union“ (ASU) als Einheitspartei der ägyptischen Bauern, Arbeiter, Intelligenzberufe und „nationalen Kapitalisten“ am 7. Dezember 1962 ist die Geschichte des Arabischen Sozialismus in Ägypten mit dieser Organisation verknüpft worden. Die am 23. März 1964 von Abdel Nasser proklamierte Provisorische Verfassung beließ dem Islam zwar seine privilegierte Stellung als Staatsreligion10, wurde aber sonst ganz von der Doktrin geleitet, daß Verstaatlichung die Regel und Privatbesitz und -Produktion die nur geduldete Ausnahme sei. Nirgends gab es aber einen Hinweis auf die Verankerung dieser Postulate in der marxistischen Auffassung vom Klassenkampf oder dem Endziel der klassenlosen Gesellschaft, denen sich auch der säkulare Arabische Sozialismus niemals angeschlossen hatte, ohne die aber die ganze Verstaatlichungspolitik dieser zweiten Phase des Nasserismus in der Luft hing.

Mehr als die Schriften religiöser Polemiker, die jahrelang, bis zu ihrem Wiedererscheinen unter Sa-dat, aus dem ägyptischen Buchhandel verbannt blieben, waren es der Krieg von 1967 und die ihm folgenden äußerst schwierigen Bedingungen der um Suezkanal und die Industrie seiner Anrainerstädte gebrachten Wirtschaft Ägyptens, die zur Berichtigung irrealer Direktiven zwangen. Abdel Nassers „Deklaration vom 30. März 1968“ ist nichts anders als ein die „Charta“ in vielen Punkten präzisierendes und korrigierendes Dokument. Der Präsident der VAR forderte in Punkt 8 seines Programms wörtlich „die Sicherstellung der Privatinitiative in Verbindung mit dem Wert der Arbeit.“ Die „Provisorische Verfassung“ wurde beiseite geschoben und die Einheitspartei mit neuen Statuten ausgestattet11.

Damit hatte die Phase des Spät-nasserismus begonnen, die sich als möglichst pragmatischer Sozialismus mit dem Schwergewicht auf Wohlfahrt, Produktionssteigerung und der Akzeptierung unorthodoxer Wirtschaftspraktiken bis zum Schleichhandel des Nachkriegsägypten kennzeichnen läßt. Der Staatschef, dessen letzte Interessen der Errichtung einer Moschee und der Stiftung eines Wohltätigkeitsfonds galten, nachdem er den Weg vom Revolutionär bis zum Sozialreformer zurückgelegt hatte, schien diese Bestrebungen zuletzt doch wieder in einen islamischen Sozialismus einmünden lassen zu wollen, wurde aber am 29. September 1970 vom Herztod ereilt.

Ehe sein Nachfolger Anwar as-Sadat dieses Anliegen verwirklichen konnte, erlebte die „Arabische Sozialistische Union“ einen vorübergehenden Höhepunkt ihres Einflusses. Der im Oktober 1970 bestellte Parteisekretär Mohsen Abul-Nur benützte diese Gelegenheit allerdings nicht zur Umgestaltung des schwerfälligen Parteiapparates, sondern warf das ganze Gewicht der ASU in die Waagschale der persönlichen Auseinandersetzung, die er zusammen mit anderen Regierungsspitzen gegen Präsident Sadat vom Zaun gebrochen hatte. Er arrangierte einen gegen das Staatsoberhaupt gerichteten Mehrheitsbeschluß im Zentralkomitee der ASU, was schließlich zu den staatsstreichartigen Vorgängen vom 13. bis 15. Mal 1971 führte und mit der Behauptung Anwar as-Sadats endete.

Außerhalb Ägyptens ist die „Arabische Sozialistische Union“ schon bald nach ihrer Gründung aktiv geworden. Ihre seit 1963 in Syrien, Libanon, Jordanien, dem Irak und Kuwait entstandenen Ableger wurden von dem libanesischen Publizisten Mohsen Ibrahim in der „Haraka qawmini al-arabi“ zusammengefaßt, die 1964 zur offiziellen Auslandsorganisation der ASU wurde, aber rasch an Bedeutung verlor1.

Erst die „Tripolis-Charta“ der engen Zusammenarbeit zwischen Ägypten, Libyen und dem Sudan hat zu ASU-Gründungen durch die Militärregierungen von Tripolis und Khartum geführt, während die ASU in Syrien im Zeichen der Konföderation mit Ägypten und Libyen im Februar 1972 offiziell zu der „Nationalen Front“ aus Baath-Partei und Kommunisten zugelassen wurde.

> Albert Hoursni ..Arabie Thoughl in th« Liberal Kge. UM—1939“, London-New York 1962, T«

• Anour Abdel Mal, „Anthologie de I. litte» ture «rabe con temporal!»“, Paris i960. 34 ff.

f. Kanwl S. Abu Jäter, „Die sozialistischen Ideen Salamah Musas“ in „Buwtan“ 8/1987, Wi»n 19«T, 8—12.

• Zweite, von Kamel 8. Abu Jaber bearbeitete Auflag« unter dem Titel „Judur al-laehtiraki“ (Wurzeln das Sozialismus), Beirut 1944.

i ,,Nas»rlJjftt »t-tatawwur w» aas al-insan“ (Entwicklungslehre und Entstehung der Arten), Kairo 1938.

• Iaaq Musa al-Husanyi. ,.The Moslem Brethren: The Greatest of Modern Islamic Movements“, Beirut 1958.

' Qama] Abdel Nasser. „La Philosophie de La Revolution“. La Caire (ohne Jahres-angäbe), 37.

' Satan Musa, „Kitab at-thawrat“, Beirut 1960, 9.

9 Salama Mua, ..Tarbijjat Salama Musa“ (Salama Musas Bildung«weg), Kairo 1982. 268.

w „The Constitution, March JS 1964“, Cairo March 22, 1S64, 8 (Art. S).

» „The Statement of March, 30. 1968“, Cairo (ohne Jahresangabe), 17, 19—32.

>• Kemai K. Karpat (Hg.), „Politioai and social thought in the contemporary Middle Eaet“, New Yorlc-London 1968, 206—208,

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