7027245-1989_16_11.jpg
Digital In Arbeit

Zwischen Mut und Vorsicht

19451960198020002020

Ungarns Kirche hat nun die Chance, sich unter den Bedingungen eines,.freien Marktes“ zu entfalten. Können Klerus und Laienbewegungen diese Gelegenheit nützen?

19451960198020002020

Ungarns Kirche hat nun die Chance, sich unter den Bedingungen eines,.freien Marktes“ zu entfalten. Können Klerus und Laienbewegungen diese Gelegenheit nützen?

Werbung
Werbung
Werbung

Die Kirche wird in Ungarn in den letzten Monaten mit völlig neuen „Lebensbedingungen“ konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet war, denn niemand ahnte, daß sich die Änderungen des politischen Lebens so rasch und tiefgreifend vollziehen würden. In vielen Kreisen besteht aber die Sorge, es könnte die weitgehende Freiheit wieder eingeschränkt werden - sei es infolge einer Entmachtung Michail Gorbatschows und deren Rückwirkimg auf den gesamten ost-mitteleuropäischen Raum, sei es durch eine Stärkung der reformfeindlichen Kräfte in Ungarn selbst.

Denn die heute oft nicht mehr praktizierten, der Einschränkung und Kontrolle des kirchlichen Lebens dienenden Gesetze und Verordnungen aus der stalinistischen Zeit sind noch gültig, die organisatorischen Strukturen, wie zum Beispiel das staatliche Kirchenamt und die Kirchensekretäre, sind noch vorhanden. Ein neues Kirchengesetz, das dem Grundsatz der „freien Kirche in einer freien Gesellschaft“ Rechnung tragen soll, wird vorbereitet, aber es wird kaum vor 1990 rechtskräftig werden — wenn alles gutgeht.

Das kirchliche Leben steht daher im Spannungsfeld zwischen Mut und Vorsicht. Nach der Erfahrung jahrzehntelanger Unterdrückung mißtraut die ältere Generation vielfach noch dem neuen Kurs von Staat und Partei, so daß der Aufbruch katholischer Kräfte vor allem von der jüngeren Generation getragen wird, die keine Angst hat, weil ihr die Erfahrung des Stalinismus erspart blieb.

Auch im Verhalten des Episkopats werden sich diese zwei Generationen artikulieren: auf der einen Seite die älteren Bischöfe, die es durch Jahrzehnte auf sich nahmen, um des Uberlebens der Kirche willen zu paktieren und zu taktieren, und auf der anderen Seite die neuen, etwa 40- bis 60jäh-rigen Bischöfe, die möglichst rasch und energisch den „Wiederaufbau“ in die Hand nehmen wollen. Aber das Bemühen der - nicht zuletzt im Ausland oft kritisierten, ja sogar offen angefeindeten - älteren Bischofsgeneration in den vergangenen Jahrzehnten um einen Modus vivendi mit dem Staat schuf wahrscheinlich einen günstigeren Ausgangspunkt für den jetzigen kirchlichen Wiederaufbau, als dies bei einem Konfrontationskurs der Fall gewesen wäre.

Völlig neue Chancen ergeben sich nun für das organisierte Lai-enapostolat. Eine Tagung der sogenannten „Bewegungen“ Anfang Februar konnte erstmals offen und ohne die früher bei wichtigen kirchlichen Schritten üblichen Bedingungen und Einflußnahmen des staatlichen Kirchenamtes durchgeführt werden. Auch innerkirchlich wurde ein neuer Akzent gesetzt: Der Primas und fast alle Diözesanbischöfe sowie die fünf neuen Weihbischöfe hörten zwei Tage lang aufmerksam die Berichte, Zielsetzungen und Schwierigkeiten von rund zehn Laienorganisationen und nützten die Tagung zu intensiven persönlichen Kontakten.

Überalterter Klerus

Diese „Bewegungen“ entstanden meist mehr oder weniger im Untergrund und wurden von den Behörden zwar geduldet, aber kontrolliert und mißtrauisch beobachtet. Man bezeichnete sie bisher meist undifferenziert als „Basisgemeinschaften“. Sie traten seit 1970 als Initiatoren großer Ju-gendwaUfahrten in die Öffentlichkeit; ein kleiner Teil von ihnen stand unter der Leitung des Piari-stenpaters György Bulänyi und wurde durch die Wehrdienstverweigerer auch im Ausland bekannt. Das Treffen zeigte die Vielfalt der Initiativen, die nun unter den Bedingungen eines „freien Marktes“, wie der Leiter des Treffens zeitgemäß formulierte, sich entfalten oder wieder verschwinden werden.

Die Gruppen des schon Anfang dieses Jahrhunderts gegründeten „lezum Marianum“ dürften am zahbeichsten sein; zu diesen traten in den letzten Jahren die ausländischen Beispielen folgenden kirchlichen „Erneuerungsbewegungen“.

Die Bischöfe haben allerdings die Notwendigkeit eines viel breiteren Laienapostolates im Auge, als dies der gewiß sehr wertvolle, aber doch eher schmale Sektor der ,3ewegungen“ leisten kann. Aufbau von Pfarrgemeinderäten, Religionsunterricht, Caritas, Ehe- und Familienberatung, Mitarbeit in der unmittelbaren Pastoral haben angesichts der kleinen Zahl und der tJberalterung des Klerus höchste Dringlichkeit. Daher rief Kardinal Laszlo Paskai die ,3ewegungen“ auf, über die eigene Gemeinschaft hinaus die Kirche in ihrer Gesamtheit zu sehen und sich nicht abzukapseln.

Der bewundernswerte Aufbruch vieler kirchlicher Kräfte vollzieht sich vor einem eher düsteren Horizont. Die über drei Jahrzehnte mit aller Macht betriebene Zurückdrängung der Religion, die Schwächung der Kirchen durch Liquidierung fast aller ihrer Institutionen und durch Einflußnahme des Staates auf ihre Personal- und Sachfragen brachte zwar nicht den Sieg der sogenannten „wissenschaftlichen Weltanschauung“, aber führte zum Agnostizismus, zum Streben nach Steigerung des Lebensstandards, bei einer wachsenden Zahl von Armen zur Sorge um die Beschaffung des Lebensnotwendigen.

Gewiß: Bei Meinungsumfragen bezeichnen sich heute mehr Menschen als früher als „religiös“. Buchverlage registrieren eine wachsende Nachfrage nach Büchern mit theologischen Themen; die Kirchen werden aufgerufen, jene schwierigen Probleme im Bereich von Jugend und Familie zu lösen, bei denen der Staat mit seinem Latein am Ende ist. Aber werden die Kirchen Ungarns die Kraft haben, diesen Herausforderungen zu entsprechen, und werden sie mit der Solidarität der Kirchen jener Länder rechnen können, denen nach 1945 der Kreuzweg erspart blieb?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung