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ZWISCHEN POLIZEI UND KRANKENKASSE?

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„Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben." Dies ist einer der Schlüsselsätze aus dem neuen Stück des sonst so wortlosen Piplits'schen Serapions-Theaters.

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„Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben." Dies ist einer der Schlüsselsätze aus dem neuen Stück des sonst so wortlosen Piplits'schen Serapions-Theaters.

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Als geschwätziger Museumswärter führt Erwin Piplits selbst die etwas verblüfften Zuschauer durch ein Museum, in dem ihnen vitrinenverpackt ihre eigene Kultur symbolisch reproduziert vor Augen geführt wird.

Nach einem nicht weniger sinnscharfen Gang durch die Gemäldesammlung, deren Bilder durchwegs den Einzelmenschen im Kampf mit einer übermächtigen Natur zeigen, erklettern die Zuschauer ein riesiges Holzschiff, in dem sich der Wirbelsturm „NU" - so heißt das Stück - erst richtig entfacht. Der Zuschauer wird Teilnehmer einer Expedition in die Geschichte des Menschen und seiner mehr oder weniger erfolgreichen Versuche, sich durch Neugier und Wissensdrang von seinen Eingebun-denheiten zu emanzipieren. So stehen aus dem Nichts plötzlich Menschen im Mittelpunkt des Geschehens, die, geleitet und gejagt von dunklen Trieben , verborgenen Mächten und kriege-rischen Systemen, durch die Wogen des fiktiven Meeres hin- und hergeschleudert werden. Sie sind allesamt gehetzte Marionetten, die keine Möglichkeit haben, über sich selbst zu bestimmen.

In einem sorgfältig inszenierten multimartialischen Medienspektakel verzaubert Piplits seine Zuschauer. Dabei geht es ihm offenbar um die Dialektik im Prozeß der Max Weber-schen Entzauberung, um deren Fortkommen er sich bekümmert zeigt und einiges an Sand aufwirbelt, wovon die Zuschauer reichlich abkriegen. Deutlich wird die Botschaft, wenn sich gegen Ende aus einem Chaos von Körpern, Nebel, Sand, Büchern und Knochen eine Stimme erhebt, die Kants Aufklärungsdefinition bis zur Heiserkeit in die Welt hinausbrüllt. Es geht also offensichtlich um die nie an Aktualität und Brisanz einbüßende Frage nach der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen.

Was hat dies alles mit den Geisteswissenschaften zu tun? Ich habe den Inhalt von „NU" etwas ausführlicher geschildert, weil das Stück Metaphern enthält, die viele Bereiche des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens streifen und somit ein thematischer Anknüpfungspunkt für die Geisteswissenschaften sind. Viel mehr noch: Das Stück handelt von Erkenntnis- und Vernunftinteressen, von Mythos und Moderne, vom Menschen und seiner Umwelt, also von der Antriebsfeder der geisteswissenschaftlichen Tätigkeit selbst.

Es ist wichtig, sich den Geisteswissenschaften inhaltlich und nicht institutionell zu nähern, weil man erstens nur dann über eine Krise der Geisteswissenschaften reden kann, wenn festgestellt ist, daß sie ihre genuinen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen, und zweitens - unter der Prämisse, daß sie wirklich Krisensymptome zeigen - ein sinnvoller Reformdiskurs nur aufgabenorientiert stattfinden kann.

„Point of departure" in der Auseinandersetzung mit den Geisteswissenschaften ist demnach die Frage: Welche Aufgaben im engeren Sinn haben sie im System der Wissenschaften und welche, im weiteren Sinn, im Verhältnis zur Gesellschaft? Tatsächlich stellt sich heraus, daß darüber Unklarheit herrscht, was die Krise der Geisteswissenschaften vorwiegend zu einer inhaltlichen Krise werden läßt. Ein Blick in die empirischen "Daten der Hochschulstatistik bestätigt, daß die Geisteswissenschaften aus institutioneller Sicht recht gut leben:

Es wird oft übersehen, daß die Geisteswissenschaften noch immer die weitaus größte Fächergruppe mit den meisten Lehrstühlen sind. 43 Prozent aller angebotenen Studienmöglichkeiten sind geisteswissenschaftlicher Natur. Im geisteswissenschaftlichen Fachbereich sind über 300 Professorinnen (19 Prozent) tätig. Im naturwissenschaftlichen Bereich hingegen nur 228.

Die Attraktivität derGeisteswissen-schaften ist auch dadurch dokumentiert, daß 21 Prozent aller inländischen Erstinskribierenden ein geisteswissenschaftliches Studium wählen (übrigens sind unter den Erstimmatrikulierenden 73 Prozent Frauen). Rund

Noch immer die weitaus größte Fächergruppe mit den meisten Lehrstühlen und Studierenden... 54.000 ordentliche Hörer sind in geisteswissenschaftlichen Studien inskribiert, 23 Prozent aller ordentlichen Hörer. Sie sind somit die größte Studienrichtungsgruppe. Im Vergleich dazu sind in naturwissenschaftlichen und technischen Studien zusammen (!) rund 24 Prozent der ordentlichen Hörer inskribiert. Der jährliche Output an absolvierten Geisteswissenschaftern beträgt rund 2.000 Jung-akadem i kerl nnen und ist damit gleich hoch wie die Anzahl der naturwissenschaftlichen und technischen Absolventinnen zusammengerechnet.

Woher kommt, angesichts dieses markanten und monumentalen Stellenwertes der Geisteswissenschaften in der österreichischen Hochschullandschaft, der Pessimismus? Woher kommt das allseits spürbare Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den naturwissenschaftlich-technischen Studien? Worum geht es eigentlich, wenn von einer Krise der Geisteswissenschaften die Rede ist?

Dazu einige lose, verkürzte Anmerkungen zu den Rahmenbedingungen der geisteswissenschaftlichen Tätigkeit.

Klimatische Rahmenbedingungen: Die Geisteswissenschaften kriegen ihren Anteil davon ab, wenn allgemein die Glaubwürdigkeit der Wissenschaften in der Öffentlichkeit thematisiert wird. Die Glaubwürdigkeit, die von Jean-Francois Lyotard im „Grabmal des Intellektuellen" so beschrieben wurde: „Von der Wissenschaft wird erwartet, daß durch sie mehr Wohlstana oder mehr Freiheit ermöglicht wird. Im Grunde hegte man in Europa und Nordamerika diese Erwartung, als man vor 200 Jahren im Zuge der Aufklärung die großen Erzählungen der Emanzipation konstruiert und für glaubwürdig befunden hat."

Ohne darauf eingehen zu können, ob diese Erwartungen erfüllt worden sind, scheint etwas Wahres daran zu sein, daß das Vertrauen der Gesellschaft in die Wissenschaften und ihr Emanzipationspotential erschüttert ist. Aus einer Umfrage des Dr. Fessel + GFK-Instituts geht hervor, daß aus diesem Grund 84 Prozent der Gesamtbevölkerung eine Reform der Universitäten für notwendig halten. Die Universitäten sind der Bevölkerung teuer und wert, sie müssen aber Leistung und Effizienz nachweisen. Sie stehen, wie andere Institutionen auch, unter Legitimationsdruck. Übrigens geht aus diesen Umfragen hervor, daß die Universitäten in den Sympathiewerten irgendwo zwischen Polizei und Krankenkasse rangieren.

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen: Spätetens seit den Erfahrungen im Dritten Reich ist eine Prämisse der Humboldtschen Reform - und das ist für das theoretische Selbstverständnis der Geisteswissenschaften nicht unwesentlich - über Bord geworfen: die Universität als apolitische Gemeinschaft jenseits der Gesellschaft, in der sich der Student in „Einsamkeit und Freiheit" - suspendiert von aller politischen Verantwortung - für seinen späteren Beruf als Bürger im Staat vorbereiten sollte. Dazu hat Niklas Luhmann festgestellt, daß die Wissenschaft nicht als „freischwebender Weltbeobachter behandelt werden kann, sondern als wissensförderndes Unternehmen der Gesellschaft und genauer: als Funktionssystem der Gesellschaft."

Theoretische Rahmenbedingungen: Damit stehen die Geisteswissenschaften immer in der Spannung zwischen Wissenschaftsanspruch und außerwissenschaftlicher Prätention: „Sie wollen Wissenschaften sein - zugleich aber auch der Humanität, der Bildung, dem Identitätsbewußtsein, der privaten und öffentlichen Praxis, der Orientierung in der historischen, in der menschlichen Welt dienen" schreibt Gunter Scholz. Dieser Sachverhalt stellt sich dann als unbewäl-tigtes Dilemma heraus, wenn sich Rahmenbedingungen verändern, wenn Paradigmen wechseln und Standpunkte gefragt sind, sprich: wenn die Gegebenheiten zum Beispiel so beschaffen sind wie heute, daß...

Politische Rahmenbedingungen:... der Boden, auf dem das politische, soziale und geistige Gerüst unserer westlichen Nachkriegsgesellschaften festgemacht war, durch verschiedene Entwicklungen unberechenbar ins Rutschen gekommen ist. Veränderungen, deren Langzeitfolgen kaum abschätzbar sind, haben einen Wandlungsprozeß in Gang gebracht, der alle großen Bereiche des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens erfaßt. Nach Stephen Toulmin stehen wir am Übergang von der zweiten zur dritten Phase der Moderne. Er spricht in diesem Zusammenhang von den „unerkannten Aufgaben der Moderne". Diese habe als Denktradition der Aufklärung wesentliche Teile der Existenz des Menschen und seiner sozialen Umwelt ausgeblendet. Wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, stellen wir fest, daß er so unrecht nicht hat.

Binnenuniversitäre Rahmenbedingungen: Nicht nur im Verhältnis zur Gesellschaft, sondern auch wissenschaftsintern stimmen Vernunft und Wirklichkeit der Geisteswissenschaften nicht überein. Im Streit der Fakultäten muß die Rolle der Geisteswissenschaften neu geschrieben werden. Der Mythos von den zwei Kulturen (Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft) führt die Weiterentwicklung der Geisteswissenschaften intrafakul-tär ebenso auf ein Abstellgleis, wie die von Odo Marquard ausgeklügelte Kompensationstheorie (die Geisteswissenschaften kompensieren Modernisierungsschäden, die durch das hohe Tempo der naturwissenschaftlichen und technischen Innovation entstehen).

Die Spezialisierung, die Dynamik in der Forschung, die „Metastasen" der Disziplinen überfordern die Geisteswissenschaften in ihrem Auftrag als einheitsstiftende Klammerwissenschaften. Auch ist es mittlerweile gang und gäbe, daß die Naturwissenschaften und die meisten anderen Spezial-wissenschaften ihre geisteswissenschaftlichen Bedürfnisse selbst erledigen. Als Orientierungswissenschaften überfordert, als Akzeptanzwissenschaften entschärft, fehlt den Geisteswissenschaften eine integrative Idee, die auch der fachlichen Zerfledde-rung in ihrem ureigensten Bereich eine Klammer bietet.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Bild der Geisteswissenschaften in ihrem gesellschaftlichen und wissenschaftssystematischen Kontext von Unübersichtlichkeit, Unsicherheit und Ratlosigkeit im Hinblick auf die Zukunft geprägt ist. Die Parameter für wissenschaftliches Tun haben sich geändert. Einem veralteten und damit in der Sinnstiftung überforderten Selbstverständnis stehen eine Menge neuer Entwicklungen gegenüber. Dem kapitalen institutionellen Stellenwert der Geisteswissenschaften entspricht kein ähnlich kraftvoller Beitrag zur Weiterentwicklung von Wissenschaft und Gesellschaft.

An dieser Stelle muß besonders hervorgehoben werden, daß wir es in Österreich mit vielen ausgezeichneten Einzelleistungen in diesem Bereich zu tun haben. Es stimmen aber auch viele zu, wenn von der Notwendigkeit und Dringlichkeit einer umfassenden Standortbestimmung der Geisteswissenschaften die Rede ist.

Eine kritische Durchforstung der bestehenden Forschungs- und Lehrtätigkeit im Bereich der Geisteswissenschaften ist eine unabdingbare Voraussetzung nicht nur für den Ein satz von zusätzlichen Mitteln, son dem auch für die Durchführung eines sinnvollen Reformdiskurses. Die Evaluation der österreichischen Geisteswissenschaften würde wesentliche Erkenntnisse über ihre Stärken und Schwächen hervorbringen und birgt in sich die Chance, eine Neubestimmung zu geben, um sich für kommende Aufgaben und Herausforderungen zu rüsten.

Um die gewünschte Qualitätsverbesserung zu erreichen, muß die Diskussion über eine nationale Planung in der Forschung, eine Koordination im Lehrangebot, eine Schwerpunktsetzung in der Verteilung der Mittel und eine gewisse Stringenz in der organisatorischen Ausformung der Geisteswissenschaften aufgenommen werden. Die „Objektivierung des objektivierenden Subjekts" (Pierre Bourdieu) ist angesagt.

Sie kann freilich nicht alle Proleme lösen. Positive Effekte erwarte ich auch von der gut im Rennen befindlichen Reform der Universitäten. Eine leistungsfähige und international konkurrenzfähige Geisteswissenschaft ist unverzichtbar für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft wie für den Fortschritt der Wissenschaften. Wenn heute nichts Geringeres auf dem Spiel steht als die „kulturelle Form der Welt", würden die neubestimmten Geisteswissenschaften wieder der „Ort, an dem sich die Welt ein Wissen von sich selbst verschafft", sagt Jürgen Mittelstraß. Er spricht auch davon, daß sie im Dialog der Disziplinen in ihrer grenzüberschreitenden, kommunikativen, identitäts- und konsensbildenden Funktion unersetzbar bleiben.

Der Autor ist Bundesminister für Wissenschaft und Forschung.

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