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Zwischen Prozenten und Mandaten

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Mit sichtlichem Ernst schritt die französische Nation am 4. März 1973 zum ersten Wahlgang an die Urne. Jeder Bürger wußte um die Bedeutung dieses Votums. Dieses Mal sollte entschieden werden, ob an die Stelle des bisherigen liberalen Gesellschaftssystems ein kollektivistisch-sozialistisches treten sollte. Mit 81,2 Prozent Wahlbeteiligung wurde ein für die Zeit seit 1945 beachtlicher Rekord geschlagen. Die vorausgegangenen demoskopischen Umfragen stimmten im wesentlichen mit den bisher bekanntgewordenen Ergebnissen überein, weniger die daran geknüpften Prognosen. Die Regierungsmehrheit — Gaullisten, Unabhängige Republikaner und Zentrum — mußten Verluste einstecken. Diese bewegen sich jedoch in erträglichen Grenzen. Man darf dazu nicht die Wahlergebnisse vom Juni 1968 als Vergleich zitieren, da Frankreich,, nach den Maiereignissen zutiefst erschreckt, damals in die Arme de Gaulles flüchtete.

Betrachten wir hingegen die Resultate vom März 1967, so stellen wir fest, daß die Gaullisten und ihre Alliierten damals 37,73 Prozent gegen 34,8 am vergangenen Sonntag erhielten. Die bisherige Majorität konnte nach dem ersten Wahlgang bereits 49 Kandidaten gegen 9 Sozialisten und Kommunisten ins Parlament entsenden. Das vorzügliche Abschneiden von Ministerpräsident Messmer wurde dabei mit Interesse registriert. Er hatte in den letzten Tagen zusehends an Profil gewonnen. Sein Vorgänger Chaban-Delmas muß sich dagegen der Stichwahl unterziehen, was darauf hindeutet, daß sich sein Bild in der Öffentlichkeit getrübt hat. Von den führenden Persönlichkeiten der Regierung kann die Position des Außenministers Maurice Schuman als eher gefährdet betrachtet werden.

Es mag paradox sein, aber Sieger und zugleich Besiegter dieses ersten Wahlganges ist die Reformbewegung der Lecanuet und Servan-Schreiber. Sie waren außerstande, das linke Zentrum auf sich zu vereinigen wie einst Senatspräsident Poher bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1969. Alle ihre Kandidaten müssen sich in einem zweiten Wahlgang wieder aufstellen lassen. Dabei scheint die Stellung Ser-van-Schreibers in Nancy höchst wackelig zu sein. Anderseits bleiben die Reformatoren infolge des relativen Mißerfolges der Majorität das Zünglein an der Waage. Mit ihren 12,4 Prozent können sie vermutlich keine eigene Fraktion in der Kammer bilden, denn dazu bedarf es 30 Abgeordneter. Dagegen hängen unzählige Kandidaten der Gaullisten und der unabhängigen Republikaner am 11. März von den Stimmen der Reformatoren ab. Eine neue Mehrheit, die nicht von der Linken dominiert wird, muß daher auf die Wünsche und Forderungen Lecanuets und Servan-Schreibers eingehen, was eine Verstärkung europafreundlicher Tendenzen bedingt. Die Verhandlungen dieser Woche sind dafür ausschlaggebend, welche Kräfteverhältnisse in der kommenden Legislaturperiode im Pariser Parlament herrschen werden.

Das wichtigste Indiz des 4. März ist jedoch der überragende Platz der Kommunistischen Partei innerhalb der linken Reichshälfte. Von den Voraussagen der Meinungsforschungsinstitute und der allgemeinen Stimmungsmache tmterstützt, hatte Mitterrand ein Gleichgewicht zwischen Sozialisten und Kommunisten prophezeit. Unter dieser Voraussetzung gaben zahlreiche reformfreundliche Wähler des Zentrums ihre Stimme der Sozialistischen Partei, und nun zeigen die Resultate ein Überwiegen der KPF mit 21,1 Prozent gegen 19,3 Prozent Stimmen für die Sozialisten. Alle objektiven Beobachter hatten freilich zu Beginn dieser dramatischen Woche bereits die Meinung vertreten, von einem Gleichgewicht zwischen dem zentralisierten, dynamischen Apparat der Kommunisten und der heterogen zusammengesetzten Sozialistischen Partei könne kaum gesprochen werden. Diese Tatsache dürfte nun auch dem Wähler nicht mehr entgehen. Am Rande sei noch die Eliminäerung der extrem linken und der extrem rechten wahlwerbenden Gruppen erwähnt.

Der erste Wahlgang brachte keine definitive Entscheidung. Kommentatoren und Generalstäbe der Parteien sehen weiterhin ein großes Fragezeichen, das erst am 11. März verschwinden wird. Infolge des komplizierten Wahlsystems könnte die gaullistische Mehrheit mit Hilfe der Reformatoren eine funktionsfähige Regierung bilden. Die manchmal vorausgesehene kommunistisch-sozialistische Sturmflut fand jedenfalls nicht statt. Eines ist sicher: der Gaullismus steht aufs neue vor einer Wandlung.

Sicher ist auch, daß sich die Fünfte Republik, die Schöpfung de Gaulles, als elastisch und eben deshalb als stabil erwiesen hat, wobei sowohl Elastizität wie Stabilität auf eine Balance zwischen den einzelnen Machtfaktoren, auf eine Art von de Gaulle „prästabilierter Harmonie“ zurückzuführen sein dürften. Wenn in Frankreich der Staatschef auch nicht die absolutistische Machtfülle des amerikanischen Präsidenten besitzt, so ist seine Stellung doch die eines Mittlers zwischen Volk und Parteien einerseits, zwischen Parteien und Regierung anderseits. Seine Überlegenheit gegenüber anderen, äußerlich stärkeren Machtfaktoren geht daraus hervor, daß er der einzige vom Volk jenseits der Parteien gewählte Machtträger ist.

Wie immer also die französischen Wähler am kommenden Sonntag bei der Stichwahl zwischen den noch im Rennen liegenden Kandidaten entscheiden mögen — das letzte Wort über Frankreichs Zukunft steht auf jeden Fall dem Staatspräsidenten zu. für den sich die Mehrheit aller Franzosen abseits und jenseits der Parteipolitik entschieden hat.

Wie wenig die Verfassung der Fünften Französischen Republik außerhalb Frankreichs bekannt ist, geht aus zahllosen Meldungen und Kommentaren hervor, die, soweit es sich nicht um Wunschdenken handelte, dem ersten französischen Wahlgang Konsequenzen zuschrieben, als ob es sich dabei um eine Wahl nach mitteleuropäischen oder skandinavischen Begriffen handelte. Die Franzosen sind aber keine Mitteleuropäer und keine Skandinavier, sie sind auch keine zum Totalitaris-mus neigenden Südeuropäer. Sie sind Europäer, gewiß — aber französische.

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