7076600-1993_21_01.jpg
Digital In Arbeit

Zwischen Rache und Neubeginn

19451960198020002020

Siebeneinhalb Monate stand das kroatische Slavonski Brod unter Granatfeuer der Serben. Heute beherbergt die 50.000 Einwohner zählende Stadt auf ihrem Territorium und in der Umgebung mehr als 44.000 Flüchtlinge aus Bosnien: Moslems, Kroaten - aber auch Serben, die nichts mit den Greueltaten der Tschetniks zu tun haben wollen.

19451960198020002020

Siebeneinhalb Monate stand das kroatische Slavonski Brod unter Granatfeuer der Serben. Heute beherbergt die 50.000 Einwohner zählende Stadt auf ihrem Territorium und in der Umgebung mehr als 44.000 Flüchtlinge aus Bosnien: Moslems, Kroaten - aber auch Serben, die nichts mit den Greueltaten der Tschetniks zu tun haben wollen.

Werbung
Werbung
Werbung

(fmg)-Die Kinderärztin Zdenka Pajic aus Slavonski Brod zeichnet ein düsteres Bild der gegenwärtigen Situation ihrer Heimatstadt: 9.800 Granaten sind im serbisch-kroatischen Krieg ab Juli 1991 auf Slavonski Brod niedergegangen. 2.700 Wohnungen wurden vernichtet, 310 Kinder sind heute ohne Vater, 48 Kinder wurden während der Kämpfe getötet, 216 verwundet. 7.800 Erwachsene wurden zum Teil schwer verwundet. „Wir haben 6.500 Liter Blut verbraucht", so die Ärztin, die sich dieser Tage bei dem aus Kroatien stammenden Neu-markter (Burgenland) Pfarrer Franz

Grozaj aufhielt, zur FURCHE.

Woher hat Slavonski Brod die finanziellen Mittel, um zu helfen? Zdenka Pajic: „Von guten Menschen. Die meisten Flüchtlinge - im Stadtgebiet leben 16.000 - haben wir bei Familien untergebracht. Stellen Sie sich vor, in einer Familie mit bisher fünf Personen leben jetzt durchschnittlich 15 Leute."

Selbstmorde von Jugendlichen

Die Primarärztin macht besonders auf die seelische Devastierung der Kinder und Jugendlichen als Folge des Krieges aufmerksam: „Viele Jugendliche bleiben der Schule fern, sie können und wollen nicht mehr lernen. Kinder wurden in ihrer Entwicklung gestoppt, Sechsjährige benehmen sich wie Dreijährige, sie stottern, wurden zu Bettnässern. Es besteht eine hohe Neigung zum Suizid. Innerhalb von fünf Monaten hatten Wir 50 Selbstmorde von Jugendlichenzwischen 15 und 25."

Für die rund 12.000 Flüchtlingskinder, die man in Slavonski Brod zu

versorgen hat, fehlt nach Aussage von Zdenka Pajic vor allem Milchpulver. Die Kinderärztin hofft diesbezüglich vor allem auf Österreich. Auch andere Kindernahrungsmittel, Kleider und Hygieneartikel für Schwangere, Shampoos und Waschmittel werden dringendst benötigt.

Die „furchtbare Situation" lasse „momentan" schon „Rachegefühle" aufkommen, gibt Zdenka Pajic zu: „Aber das ist mehr ein Aufbegehren, ein Mechanismus der Abwehr. Dieses Gefühl taucht immer beim Tod von Kindern auf. Man will sie rächen, um andere Kinder vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren." Und der Caritas-Mitarbeiter Domagoj Si-monoyicfügt hinzu: „Ich glaube nicht, daß ich wirklich Rache üben und jemandem Leid zufügen könnte. Aber Menschen, die jemanden durch den Krieg verloren haben, sind inbestimmten Momenten zur Rache bereit. Aber im Grunde ist es ruhig bei uns. Die Grundstimmung ist, daß alles endlich ein Ende nehmen soll. Alle denken: fangen wir von vorne an."

sende halten sich heute in Kroatien, Slowenien, in Österreich und Deutschland auf (siehe Kasten). In Slawonien (Kroatien), in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrer alten Heimat, warten Zehntausende Moslems auf eine Rückkehr in ein wieder friedlich gewordenes Land, berichtet der FURCHE der kroatische Franziskanerpater Domagoj Simonovic, Mitarbeiter der Caritas (siehe Beitrag unten). Die Frage, ob die ins Ausland geflüchteten Moslems in die neuerdachten Schutzzonen in ihrer Heimat zurückkehren können und wollen, kann er nicht beantworten.

Smail Balic beklagt, daß sich die europäische Friedensbewegung im Falle Bosnien-Herzegowinas kaum zu Wort melde, es sei völlig unverständlich, warum sie jetzt schweige. Er ist besonders enttäuscht von der kroatischen Seite - weniger von Mate Bo-ban, dem selbsternannten Chef der kroatischen Republik „Herceg-Bos-na", als vom kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman, der mit Slobodan Milosevic die Aufteilung Bosniens mitzuverantworten habe. Bei einer Militärintervention in Bosnien - so Balic - wären moslemischerseits „die Tore für die Friedensbringer weit geöffnet". Doch davon scheint das zerstückelte Land weiter entfernt als je zuvor. (Komment Seite 3)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung