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mozaik

DISKURS
Bosanski Lonac - © Illu: Rainer Messerklinger

Bosanski Lonac

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Für das Schweigen hatte meine Familie keine Verwendung. Erst Jahre später, als ich selbst zu schreiben begann, dachte ich wieder an die kalte Kärntner Stube, die einen bei sich selbst bleiben lässt.

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Für das Schweigen hatte meine Familie keine Verwendung. Erst Jahre später, als ich selbst zu schreiben begann, dachte ich wieder an die kalte Kärntner Stube, die einen bei sich selbst bleiben lässt.

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Meine Kindheitsfreundin lebte am Bauernhof. In einem dieser stummen Kärntner Höfe, in denen nur gearbeitet wurde. In dem die Väter mit ihren Frauen nur Blicke tauschten. Wie Geister traten sie ein, nahmen in der unbeheizten Stube Platz. Mit einem Kopfnicken wurde das Abendessen eingeleitet. Auf den Tellern: Berner Würstel, Essiggurken und Semmeln. Im Stall vor dem Haus das Grunzen der Schweine. Nach der Schlachtung war auch dieses Geräusch verschwunden. Diese Kärntner Stille der 90er Jahre umzingelte mich. Die Höfe waren groß, die Stimmen verloren sich auf dutzenden Hektar. In meiner Familie hingegen gab es Worte im Überfluss. Beim gemeinsamen Abendessen im engen Wohnzimmer flogen sie durch den Raum, wurden von der Lampe durchleuchtet und fielen wie Flocken herunter. Wir servierten sie heiß wie den Bosnischen Eintopf, die Nationalspeise.

Der Schriftsteller Miljenko Jergović hat diesem Eintopf in seinem Erzählband „Sarajevo Marlboro“ ein eigenes Kapitel gewidmet. Er erzählt, wie der Journalistikstudent Zlaja aus Sarajevo während des Kriegs zu seiner Freundin Elena nach Zagreb kommt und dort verzweifelt nach Lehmtöpfen sucht, um den perfekten „Bosanski Lonac“ zu kochen. Zu kaufen gab es die Töpfe nicht, weder in Zagreb noch in Sarajevo. Aber in Sarajevo, erzählt Jergović, hatte jeder so einen Lehmtopf zu Hause. Wer keinen hatte, dem wurde einer geliehen. Und so saßen am Ende alle zusammen, tranken und redeten. Dieses laute Chaos, es prägte auch meine Welt. Für das Schweigen hatte meine Familie keine Verwendung. Erst Jahre später, als ich selbst zu schreiben begann, dachte ich wieder an die kalte Stube, die einen bei sich selbst bleiben lässt – ohne den Klang kochender Töpfe, ohne Wortgeflechte. Beim Schreiben ergab das Schweigen Sinn. Das innere Durcheinander wurde aufgeräumt, in Bahnen gelenkt. Und das schaffte nur die Kärntner Stube, diese Stille im Ohr meiner Kindheit.

FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Möchten Sie mozaik abonnieren und das neueste Stück digital lesen? Dann können Sie das hier tun.

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