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Canetti — vom Tod zum Leben

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Wenn Elias Canetti sein erst posthum erscheinendes Erinnerungswerk „Nachträge aus Hampstead“ nannte, hat dies eine besondere Bedeutung. Damit nämlich betonte er, daß die drei vorangegangenen Bände seiner Autobiographie („Die gerettete Zunge“, „Die Fackel im Ohr“ und „Das Augenspiel“) den

Hauptteil seines Lebens und Werkes beinhalteten, während später die Phase der „Nachträge“ zu finden sei - eine subjektive Feststellung, die zweifellos umstritten sein kann.

Elias Canetti war fünfunddreißig Jahre alt, als er Wien 1938 verlassen mußte, und tatsächlich hatten sich die wichtigsten Erlebnisse, die sein Leben und auch sein späteres Werk prägten, in Wien ereignet. Auch die nachher geschriebenen Werke sind von den Spuren seiner

Wiener Jahre gezeichnet, ganz abgesehen davon, daß sein berühmter Roman „Die Blendung“ 1935 erschienen war und bis dahin auch seine beiden Dramen „Hochzeit“ und „Komödie der Eitelkeit“ fertig vorlagen. Immer wieder war es Wien, das in Gesprächen und Interviews mit ihm dominierte. Dabei hatte Elias Canetti seit seiner erzwungenen Emigration nach London, der später die Übersiedlung nach Zürich folgte, eine tiefgehende Verwandlung durchgemacht. Die Wiener Zeit war eine Periode erupti ver und ebenso anarchischer und apokalyptischer Erlebnisse. Die damals geschaffenen Werke leuchteten in den vulkanischen Farben des Untergangs und waren schaurige Darstellungen des Nihilismus.

Der Elias Canetti nach der Emigration hatte seine Grundeinstellung verändert: er fand nach dem Zusam menbruch des Hitler-Regimes und im Aufbruch der neu en- Demokratien eine bisner nicht gekannte Hoffnung. Bücher wie „Das Gewissen der Worte“ und seine Erinnerungsbände sind für ein lebenswertes Leben geschrieben, er bekämpfte den Tod in allen Varianten. Man lese die „Stimmen von Marrakesch“: Sogar der einzige monoton gerufene Laut, ausgestoßen von einem schmutzigen Bündel von Mensch auf dem Boden, wird zu einem Wunderzeichen von Leben. Der spätere Canetti entwickelte sich zum Überwinder des frühen.

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