Sibylle Lewitscharoff - © Foto: dpa/Hannibal Hanschke

Im Gespräch mit den Toten: Erinnerung an Sibylle Lewitscharoff

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Zum Tod der am 13. Mai 2023 in Berlin verstorbenen Schriftstellerin.

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Zum Tod der am 13. Mai 2023 in Berlin verstorbenen Schriftstellerin.

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Das ist der Vorteil der Literatur: Sie kann den Himmel ausmalen, ins Jenseits blicken und die Toten sprechen lassen. Und so kann eine Situation, in der ein Mensch sich wegen Trauer und Schuld betrinkt, auch durchaus komisch werden: Weil die Toten an der Decke über dem Trauernden in Sibylle Lewitscharoffs Roman „Consummatus“ ohne Unterlass tratschen.

Der Tod, das Ungeheure des Todes, ist der am 16. April 1954 in Stuttgart geborenen Autorin schon als Mädchen begegnet: Als sie elf war, setzte ihr Vater, ein aus Bulgarien stammender Arzt, seinem Leben ein Ende. Die Wut darüber merkte man ihr Jahrzehnte später noch in Gesprächen an. Die Auseinandersetzung mit den großen und den letzten Fragen blieb. Lewitscharoff studierte Religionswissenschaften und Soziologie in Berlin; sie lebte in Buenos Aires und Paris, bevor sie als Buchhalterin arbeitete.

Mit „Pong“ trat sie 1998 in Klagenfurt an und erhielt prompt den Ingeborg-Bachmann-Preis (siehe Federspiel Seite 15). Die schriftstellerische Karriere gipfelte 2013 in der Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis.

Warum das Jenseits, die Gespräche der Toten? Mit „hausbackenen Realisten“ hatte es die gesellige Autorin nicht so. Sie interessierte sich für das, das Menschen nicht denken können und über das sie doch denken und schreiben. Sie war fasziniert von Samuel Beckett, „ein Jenseitsbohrer von hohen Gnaden“, Franz Kafka und Virginia Woolf. Das Gelesene hinterließ seine Spuren in ihren Texten und reichte von der Bibel über Dante, Blumenberg und weiter.

In Diskussionen trat sie höchst streitbar auf. Wenn sie in Rage geriet, konnte sie verbal kräftig austeilen, Provokationen fürchtete sie nicht, sondern ging sie geradlinig an. Sätze, die in der Öffentlichkeit gesprochen werden, das musste sie als Meisterin der Worte wissen, können nicht mehr zurückgenommen werden, selbst wenn man darum bittet – wie sie nach ihrer 2014 gehaltenen „Dresdner Rede“ gegen die Reproduktionsmedizin: Aggressiv wären da einige Passagen gewesen und dumm, bedauerte sie später.

In ihrer Literatur hingegen wusste Lewitscharoff das Dogmatische durch Ironie und Humor zu brechen. Und sie hatte ein Gespür für Figuren wie jene „flaue Christenseele“ in „Consummatus“, „die alles schluckt und gegen alle Erfahrung hofft und hofft und hofft“.

Zunehmend setzte ihr „die böse Schleichkatze“ Multiple Sklerose zu. Am 13. Mai 2023 ist Sibylle Lewitscharoff 69-jährig in Berlin gestorben.

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