Ziviler Ungehorsam: Schlüssel für die Rettung der Demokratie
Demokratie kann nur bestehen, wenn sie durch Protest und Dissens herausgefordert wird. Ohne Unordnung und Widerstand gibt es keinen Fortschritt und keine Gerechtigkeit. Ein Essay im Kontext des diesjährigen Philosophicum Lech zum Thema "Sand im Getriebe. Eine Philosophie der Störung".
Demokratie kann nur bestehen, wenn sie durch Protest und Dissens herausgefordert wird. Ohne Unordnung und Widerstand gibt es keinen Fortschritt und keine Gerechtigkeit. Ein Essay im Kontext des diesjährigen Philosophicum Lech zum Thema "Sand im Getriebe. Eine Philosophie der Störung".
Dass sich die Demokratie in einer Krise befindet, wird heute – dank Trump, Brexit und dem erschreckenden Auftstieg rechtsextremer und autoritärer Parteien in Europa – kaum jemand mehr leugnen. Aber auch strukturelle Herausforderungen und Defizite machen der Demokratie zu schaffen – vom Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus, politischem Gleichheitsversprechen und zunehmender ökonomischer Ungleichheit bis zur Klimakatastrophe. Etablierte Parteien verfallen angesichts dieser doppelten Herausforderung allzu häufig in Panik und reden vermehrt autoritären Scheinlösungen das Wort, die demokratische Grundrechte einschränken und hart erkämpfte Solidaritäten innergesellschaftlich ebenso wie international aufkündigen – und damit die Krise letztlich nur verschärfen statt einen Weg nach vorne zu weisen.
Aus der Geschichte der Demokratie könnte man lernen, dass sich Demokratie nur erhalten lässt, wenn man sie ausweitet und stärkt – und wenn man erkennt, dass Protestbewegungen für diese Ausweitung und Stärkung eine wesentliche Rolle spielen. Ohne Dissens und Widerspruch hätte es viele demokratische Fortschritte – etwa gleiche Rechte für Arbeiter, Frauen und anderen marginalisierten Gruppen – historisch gesehen gar nicht gegeben, und ohne sie lässt sich eine adäquate Antwort auf die Krisen unserer Zeit auch heute kaum vorstellen. Das gilt besonders in jenen grundlegenden Fragen, die auch mächtige politische und ökonomische Interessen tangieren, wie etwa die Klimakrise.
Nun gibt es viele Stimmen, die dem im Prinzip zustimmen mögen, sich zugleich aber eine Art von Dissens und Protest wünschen, der nicht allzu viel stört. Ja, Dissens sei zwar wesentlich für die Demokratie, dürfe aber nicht zu Unordnung führen. Dieser versuchte Spagat verkennt jedoch, dass der Raum der Demokratie massiv verengt wird, wenn die Grenzen von zulässigem Dissens von oben bestimmt werden, und wenn ein für Unordnung und Störung sorgender Dissens gar nicht mehr als demokratisch oder legitim gelten kann.
„Terroristische“ Frauenbewegung
Dabei zeigt auch hier ein Blick in die Geschichte aller real existierenden Demokratien ganz klar: Auch störender Protest und Unordnung stiftender ziviler Ungehorsam sind für die Demokratie unerlässlich. Sowohl die Frauenbewegung als auch die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung sind hierfür gute Beispiele: Heute allseits als gerechtfertigt und wichtig anerkannt, sind sie in ihrer eigenen Zeit auf massiven Widerstand gestoßen und wurden von den herrschenden Eliten als illegitim und gar terroristisch denunziert. Das zeigt: Manchmal braucht es diese Art von Störung und Provokation, um uns dazu zu bringen, einer Realität ins Auge zu sehen und Herausforderungen anzuerkennen, die wir lieber verdrängen würden. Demokratie ohne Protest, und damit ohne Störung der Ordnung, kann es nicht geben, zumindest nicht auf Dauer.
Umso beunruhigender ist es, wenn – zum Teil unter dem Applaus der Medien und der breiteren Öffentlichkeit – zunehmend auch weitgehend friedlicher und gewaltfreier Protest gezielt kriminalisiert und in einem aufgeheizten Diskurs delegitimiert wird. So wurden die Klimaproteste der letzten Jahre von vielen Parteien auf äußerst polemische Weise in die Nähe von Terrorismus und Organisierter Kriminalität gerückt.
Zum Teil waren die Proteste sicherlich disruptiv, und über die Klugheit und Rechtfertigung einzelner Aktionen kann man streiten, aber es sollte eigentlich kein Zweifel bestehen, dass es einen klaren Unterschied gibt zwischen einem aus prinzipiellen Gründen gewaltfreien Protest, der keine direkte Gewalt gegen Menschen einsetzt und das Risiko der indirekten Schädigung zu minimieren versucht, und dem gezielten Einsatz von Gewalt gegen Menschen. Dass diese klare Grenze zwischen legitimem, wenn auch umstrittenem Protest, der für die Demokratie zentral ist und von einer Demokratie auch ausgehalten werden muss, auf der einen Seite und Terrorismus auf der anderen Seite, heute aus politischem Kalkül zunehmend verwischt wird, ist höchst problematisch und besorgniserregend.
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