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„Kopfloser” Libanon

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Der Libanon treibt wenn nicht ein Wunder geschiet, auf die ersta schwere innerpolitische Krise seit sechs Jahren zu. Knapp drei Monate bevor die Amtszeit des jetzigen Präsidenten — General Fuad Schehab — abläuft, zeigt sich noch kein aussichtsreicher Nachfolger. Dieser Umstand, der in keinem anderen demokratischen Staat besorgniserregend wäre, erschüttert das kleine Land an der östlichen Mittelmeerküste in seinen Grundfesten.

Der Libanon ist das kleinste arabische Land und die einzige arabische Demokratie. Auf einer Fläche von rund 10.000 Quadratkilometern leben knapp 1,9 Millionen Araber, Tscherkessen, Arme-Etwas über die Hälfte sind christliche, der Rest (abgesehen von 6000 mosaischen) muselmanische Gläubige verschiedener Bekenntnisse. Der ganze Staat beruht auf einem komplizierten Minderheiten- und Religionsproporz. Präsident muß stets ein maronitischer Christ, Ministerpräsident ein sunnitischer Moslem sein. Das aus 99 Abgeordneten bestehende Einkammerparlament wird alle vier Jahre nach demokratischen Prinzipien gewählt Die Kandidaten, gehören selten „klassischen” Parteien an, sondern werden nach Familien- und Stammeszugehörigkeit oder religiösen Gesichtspunkten bestimmt. Viele von ihnen sind parteilos oder zählen zu einer winzigen Splittergruppe.

Infolgedessen ist das Parlament schwach, und das Staatsoberhaupt, das für sechs Jahre gewählt wird, bildet sein verfassungsmäßig starkes Gegengewicht. Von ihm hängt ab, ob die verwickelte Gesetz- gebungs- und Verwaltungsmaschinerie und das noch verwickeltere rassische und religiöse Gleichgewicht funktionieren.

Eine empfindliche Demokratie

Das auf die mit anderen Ländern kaum vergleichbaren Verhältnisse zugeschnittene Regierungssystem bewährte sich. Die territoriale Integrität des Libanon ist’ nicht, wie die anderer arabischer Länder, ständig gefährdet. Seih Wirtschaftsleben blüht, und er kennt keine ungelösten sozialen Probleme. Das System setzt — wie jede Demokratie — allerdings voraus, daß Wähler und Gewählte, Parlament und Regierung die demokratischen Spielregeln achten. Werden sie übertreten, zeigen sich rasch große Schwächen. Vor einer solchen Schwäche bewahrte General Schehab den Libanon vor sechs Jahren.

Um die Diktatur auszuschließen, bestimmt die Verfassung, daß der Präsident nur einmal gewählt werden darf. Camille Schamun, Schehabs Vorgänger, wollte seine Regierungszeit durch eine Verfassungsänderung verlängern. Dadurch stürzte er das Land in die schwerste Krise seiner jüngeren Geschichte. Gleichzeitig überfluteten die damals hochschlagenden Wellen des revolutionären Panarabismus seine Grenzen. Nur amerikanische Truppen retteten seinen Fortbestand (1958).

Schamun wich dem damaligen Generalstabschef, der als „Retter der Nation” gefeiert wurde. Schehab hielt, was man sich von ihm versprochen hatte. Er ist ein schweigsamer „unarabischer” Mann, der den Libanon zielstrebig aus der inneren Notlage herausführte und Nasseristen, und Baathisten zu überzeugen suchte, daß er eine wichtige Rolle als mittelöstliches „Überdruckventil” spiele, das man besser nicht antaste. Der außenpolitische Druck ließ daraufhin nach.

Schehab amtsmüde

Am 22. September 1964 läuft die Amtszeit Schehabs ab. Schon lange vorher versuchte eine Mehrheit, den Mann, „wie ihn der Libanon nur alle 300 Jahre einmal hervorbringt”, für eine zweite Amtsperiode zu gewinnen. Der Zufall wollte, daß Parlaments- und Präsidentenneuwahl in diesem Jahr zusammenfielen. „Loyalistische” Parteien Schamun verweigert hatte, wollte man Fuad Schehab freiwillig darbringen.

Der General weigerte eich aber. Er ist amtsmüde und hat zuviel Respekt vor der Verfassung, die zu ändern ihm als gefährlicher Präzedenzfall erschiene. Obwohl er von seinen Anhängern monatelang bestürmt wurde und ihn zeitweilig täglich drei Delegationen deswegen aufsuchten, blieb er standhaft. Im Orient ist man gewohnt, daß dem letzten auch noch ein allerletztes Wort folgt. Die „Loyalisten” hoffen also, wozu Schehab sie nicht ermuntert, weiterhin auf ihr Idol.

Acht Kandidaten

Diese Hoffnung behindert die verfassungsmäßige Lösung der Nachfolgefrage. Die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse sind, obgleich sich die Parteistruktur kaum veränderte, schwieriger geworden. Kandidaten wie der frühere Präsident Camille Schamun und der bisherige Oppositionschef, Raimond Eddė, wurden in ihren Geburtsorten geschlagen. Die „Loyalisten” erhielten zwar Zuwachs, können sich aber auf keinen anderen Kandidaten als Schehab einigen. Es gibt deren acht, die alle einflußreichen christlichen Familien entstammen. Drei haben ernsthafte Wahlchancen, keiner allerdings den säkularen Zuschnitt Schehabs, der das empfindliche minderheitliche, politische, soziale und religiöse Gleichgewicht allein durch das Gewicht seiner Persönlichkeit ausbalancierte. .

Im Libanon wartet man daher auf ein Wunder. Der erste Premier des befehdeten Nachbarn Israel sagte einmal, wer nicht an Wunder glaube, sei kein Realist. Das ist vielleicht jüdisch, vor allem aber sehr arabisch!

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