Die FURCHE-Herausgeber
Eine Mittagsrunde am Rande der Salzburger Festspiele. Das Gespräch kreist um mögliche Kandidaten für eine hohe europäische Auszeichnung. Wer wäre 2010 als Preisträger denkbar? Angela Merkel – die ja, und sonst? Wo sind die großen europäischen Persönlichkeiten? Wo die Vorbilder, die authentischen Zubringer von Werten und Perspektiven – für diesen an sich selbst zweifelnden, visionslos gewordenen Kontinent?
„Vergesst die Politik“, sagt einer aus der Tafelrunde, „da ist derzeit einfach kein großer Europäer zum Herzeigen und Maßnehmen. Leider. Dabei bräuchten wir gerade heute mehr Vorbilder als Vorschriften.“
Lethargie, Provinzialismus
Die jetzt folgenden Wortmeldungen machen deutlich: Europa krankt an seinen Erfolgen. Noch nie war dieser Kontinent so reich und so frei, so friedlich und so sozial. Und doch sind Unzufriedenheit und Lethargie allgegenwärtig. Und doch wachsen Populismus und Provinzialismus. Und doch verabschiedet sich die Jugend von der res publica; nimmt das Desinteresse am Gemeinwohl zu – und damit auch die Distanz, ja Verachtung gegenüber politischen Verantwortungsträgern.
„Amerika, du hast es besser“, sagt jemand – und da ist keiner am Tisch, der Barack Obama, seinem Charisma und den Amerikanern die Bewunderung verweigert. Woher nur nimmt dieses große Land die Kraft, das Steuer so rasch und eindrucksvoll umzulegen – inmitten all der Strudel von Finanzkrise, Irakkrieg und Sicherheits-Manie?
Und was ist bei uns Europäern falsch gelaufen – mehr noch im Bewusstsein als in der konkreten Politik? Ist die Union der bald 500 Millionen Bürger schon zu groß, zu komplex, zu bürokratisch blutleer – und ohne Impuls zur Mitgestaltung? Sind liberale, pluralistische Demokratien noch zum Grundkonsens verbindlicher Werte fähig? Ist unsere Mediengesellschaft überhaupt an Persönlichkeiten interessiert, die Hochachtung verdienen und Beispiel geben? Sind wir Europäer nicht auch gebrannte Kinder, wenn es um die kollektive Anerkennung von Vorbildern geht? „Geht es Europa erst besser, wenn es Europa schlechter geht?“, hat der Polit-Pensionist Andreas Khol erst kürzlich in Aachen provokant formuliert. Anders gefragt: Hat uns der Wohlstand tot geschlagen für Träume von einer gerechteren, solidarischeren Welt?
Salzburgs Hoffnungspotenzial
„Ich sage Euch: Vergesst die Politik“, wiederholt einer in der Tafelrunde, „sucht die Vorbilder lieber in der Kultur, in der Religion.“ Und erntet Zustimmung und Widerspruch: Ja, Kunst kann empfindsam machen für das, was ethisch zu reparieren ist. Ja, Religion kann wieder Werte stiften und Seelen heilen. Aber: Nur die Politik kann Wirklichkeit verändern. Kann ordnen, was zuletzt so verwahrlost ist. Kann der alten, neuen Ethik wieder öffentlichen Raum verschaffen.
Auf dem Heimweg, zwischen Dom und Festspielhaus, denke ich: Vielleicht ist gerade dies das Besondere Salzburgs: dass es uns zumindest für ein paar Sommerwochen – gegen alle Alltagsrealität – dieses verlorene europäische Handlungsbündnis von Kultur, Religion und Politik neu suggeriert. In seiner ganzen Brisanz und Attraktivität.
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