A dream within a dream

Werbung
Werbung
Werbung

Von der Bibel bis Thomas Mann:Eine kurze Geschichte des Traums in der Literatur.

Von Anfang an sind Traum und Dichtung Doubles gewesen: Beide geben das Bild einer anderen Wirklichkeit hinter den hellen Dingen des Tages. Beide sind ursprünglich auch Kontaktstellen zu den Göttern, oder jedenfalls zu einem übersinnlichen Jenseits, dessen Botschaften seltsam verschlüsselt sind. Wenn, im Laufe der Jahrhunderte, die Dichtung selber Träume schildert, dann verdoppelt sie damit die eigene Option auf eine Wirklichkeits-Alternative. Selbst in säkularen Zeiten, als im Traum nicht mehr ein göttlicher Wille, sondern das Dräuen des Schicksals oder auch schon tief in der Seele Verborgenes hörbar wird, nutzt die Literatur den Traum als Eintrittskarte in einen Raum, wo die Blockaden gegen das Imaginäre aufgehoben sind. Der Traum potenziert also die Dichtung.

Träume als Prophetien

In der Bibel und in den antiken Schriften arbeiten Träume dabei temporal vorwärts: Sie öffnen zukünftige Zeitdimensionen, sie haben prophetischen, oft unheilvollen Charakter. So träumt Hekuba, Königin von Troja, sie werde Feuer gebären oder ein Ungeheuer mit hundert Händen - ein Schwangeren-Alptraum, der sich erfüllt: Sohn Paris wird den Krieg verursachen, der Troja in Asche legt. Auf die Götter, die sich so mitteilen, ist aber bei den Griechen kein Verlass: Zeus schickt Agamemnon beispielsweise einen "täuschenden Traum", die Gelegenheit zum Kampf sei günstig - tatsächlich will der Göttervater aber nur die Griechen aus der Reserve locken, um zu rächen und zu strafen. Im Gegensatz dazu ist der Gott der Israeliten zwar streng, aber auch loyal: Seine Auserwählten bekommen die Chance, geträumte Katastrophen abzuwenden. Die Träume des ägyptischen Pharao von den fetten und den mageren Kühen, den prallen und den dürren Ähren mag der gefangene Joseph schlüssig als Ankündigungen von Segensjahren und darauffolgenden Missernten deuten, er kann ein Desaster durch eine vernünftige Vorratspolitik aber auch verhindern.

Der Traum - ein Leben ...

In der Geschichte literarischer Träume wird der Zeitvektor Zukunft dann langsam eingezogen. Nach tausenden von Verheißungsträumen, die symbolisch zu entschlüsseln sind, bringt die barocke Allegorie Traum und Fiktion zeitgleich zur Deckung. Calderons Versdrama "La vida es sueño" (1636) - "Das Leben ein Traum" - führt zwar auch eine Erziehungsgeschichte zum "richtigen" Leben vor, aber angesichts der Ewigkeit hat das Diesseits selbst die Flüchtigkeit eines Traumbildes: "Was ist Leben? Hohler Schaum, / Ein Gedicht, ein Schatten kaum! / Wenig kann das Glück uns geben; / Denn ein Traum ist alles Leben / Und die Träume selbst ein Traum." Der Traum deutet nicht mehr die Zukunft, sondern das Leben - und die Literatur erlaubt sich, beides zu vermischen. Am Ende hat das Traumleben nicht nur eigene Gesetze, sondern eine höhere Intensität und Qualität als der prosaische Alltag: Von dieser Idee ist die literarische Romantik dann schließlich besessen. Bei Novalis, bei Brentano, bei Tieck und in der ganzen europäischen Nachfolge ist der Traum der eigentliche Dichter, der die Imagination entfesselt, seine Sphäre die Utopie eines poetischen Raumes, einer schöneren Wirklichkeit: "All that we see or seem is but a dream within a dream", so wird es Edgar Allan Poe sagen, und: "Dreams! in their vivid coloring of life, / As in that fleeting, shadowy, misty strife / Of semblance with reality, which brings / To the delirious eye, more lovely things / Of Paradise and Love."

Das bedeutet aber auch, dass der Schlüssel zur Traumbotschaft nicht mehr im göttlichen Willen oder in der Diesseitsentsagung bestehen kann. Als ästhetisches Phänomen folgt der Traum einer Bilderlogik, die aus dem Gefühl und bereits aus dem Unbewussten, dem "schlummernden Bewusstsein" herrührt. So wirkt Friedrich Schlegel geradezu als Vorreiter der Tiefenpsychologie, wenn er davon spricht, dass der Traum ein "bildliches Denken" sei, das "scheinbar im regellosen Spiel umherirrt, eigentlich aber nur einem andern und eignen Gesetz der bildlichen Ähnlichkeit oder der Wahlverwandtschaft des innern Gefühls folgt".

Träumende Sehnsucht

Damit ändert das 19. Jahrhundert die Zeitrichtung des Traumes: Er sieht nicht die Zukunft, sondern lotet die seelische Vergangenheit aus und findet Vergessenes und verdrängte Begierde. In den großen Romanen der Epoche kommt man den Angst- und Sehnsuchtsträumen der Helden gerade noch mit common-sense-Psychologie bei; die Traumerzählungen entziehen sich aber oft nicht nur der rationalen Kontrolle der Figur, sondern auch bereits der des Lesers. Vor dem schon geplanten Mord träumt sich Dostojewskijs Raskolnikow (1866) als Knaben, der zusehen muss, wie ein elendes Bauernpferd zu Tode gequält wird - das ist kein orthodoxer Zukunfts- und Warntraum mehr, sondern ein Spiegel des eigenen sado-masochistischen seelischen Szenarios. Je näher das Fin de siècle herankommt, desto "wilder" wird die Logik der literarischen Träume, bis sie den traditionellen Erzählrahmen - die "realistische" Einschlaf- und Aufwachszene - sprengen. Hugo von Hofmannsthals Traumerzählungen, das "Märchen der 672. Nacht" und die "Reitergeschichte" (1895/1898), verzichten bereits auf diese Einbettung und lassen das Bewusstsein des Helden unmerklich in ein Traumerleben übergehen, das nicht mehr "vernünftig" erklärt werden kann, sondern einer alptraumhaften, filmischen Dynamik folgt. Vor 1900 wird die verschwimmende Grenze zwischen Traum und Realität überhaupt zum Lieblingsmotiv, fast schon zum Gemeinplatz der Wiener Moderne: "Es fließen ineinander Traum und Wachen, / Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends", lautet die betreffende, obligate Zeile von Arthur Schnitzler. Dabei hat man oft übersehen, dass diese Traum-Texte immer noch vor-freudinanisch konzipiert wurden, dass die Literatur der 1890er Jahre vielmehr eine Parallelaktion zu Sigmund Freuds entstehender Traumtheorie war.

Reverenz an Freud

Obwohl Freuds 1900 erschienene "Traumdeutung" unstreitig Epoche machte in der Geschichte der literarischen Traumdarstellung, haben die Autoren immer wieder einen vorsichtigen Abstand zur Psychoanalyse gewahrt und die dichterische Priorität in der Traumdarstellung beansprucht, Hofmannsthal beispielsweise oder auch Thomas Mann. In Manns letztem Josephs-Roman (1943) deutet der listige Held die besagten Kühe-und-Ähren-Träume des Pharaos, indem er ihn selbst auf die Auslegung kommen lässt, und der Pharao bedankt sich, wobei er Josephs neue Methode lobt, "dass man nicht sprechen kann, ohne zu sprechen, oder nicht sprechen und doch sprechen, indem man seine Gedanken belauschen lässt" - eine ironische Reverenz vor Freuds Assoziationsverfahren und zugleich der Hinweis darauf, dass die Psychoanalyse bloß systematisiert habe, was an Menschheitswissen über Träume vorhanden war und der Literatur seit jeher zur Verfügung stand.

Die Konkurrenz um die Deutungshoheit des Traums ist mittlerweile ausgefochten, der Traum wird in den virtuellen Welten des 21. Jahrhunderts wieder neu rangiert - und kommerzialisiert. Aber wie der Traum, wird sich auch die Literatur ihr abseitig-dunkles Potenzial nicht abkaufen lassen.

Die Autorin ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Salzburg und Präsidentin der Arthur-Schnitzler-Gesellschaft.

BUCHTIPPS:

Der Schlaf der Vernunft

Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit

Von Peter-André Alt. Beck Verlag, München 2002. 464 Seiten, geb., e 35,90

Träume in der Weltliteratur. Von Manfred Gsteiger (Hrsg.). Manesse Verlag, Zürich 1999. 391 Seiten, e 20,50

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung