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Achtung! Sozialparasiten!

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Mit der Sozialversicherung geht es in den meisten Ländern bereits so wie mit einem Generalstreik, bei dem alle gegen alle streiken. Man kann jetzt davon ausgehen, daß in unserem Land derzeit die Angehörigen aller sozialen Großgruppen versichert sind. Das bedeutet, daß nunmehr so gut wie alle wieder alle erhalten müssen, wenn der Versicherungsfall gegeben ist. Jedenfalls nähert, sich die Zahl der pflichtig Versicherten allmählich der Wohnbevölkerung Oesterreichs. In der Pensionsversicherung sind derzeit allein an die 2 Millionen Unselbständige versichert, etwa 3,5 Millionen sind krankenversichert. Gegenüber 1938 sind um 700.000 Familienangehörige mehr krankenversichert, ohne daß für die mitversicherten Angehörigen Beiträge eingehoben würden. Allein aus der gesetzlichen Pensionsversicherung gibt es fast 800.000 Rentner. Die Volkspension ist daher in Oesterreich fast schon Wirklichkeit geworden.

Und nun wird von einer Krise der Sozialversicherung gesprochen. Das geschieht schon lange, aber mit besonderem Nachdruck, seit die Krankenkassen infolge der letzten Grippewelle derart beansprucht wurden, daß sie notleidend geworden sind. Daher ist auch die Leistung eines Staatszuschusses unvermeidbar geworden. Lediglich die Höhe der Subvention steht noch nicht fest. Jedenfalls ist offensichtlich, daß in unserem Land die Sozialversicherungsinstitute bereits in einem Umfang beansprucht werden, der in keinem Verhältnis zu ihrer eigenen noch zur volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit steht. Versicherungsprinzipien und solche der Fürsorge werden miteinander vermengt. Schließlich konnte sich vor aller Welt ein Sozialparasitentum herausbilden, gegen das sich auch die Arbeiterschaft — und mit Recht — wendet.

Das Prinzip der Selbsthilfe wurde weitgehend aufgegeben — auch von den Selbständigen — ebenso fast jeder Risikoselbstbehalt, so daß sich schließlich die Masse der Bevölkerung nicht mehr vorstellen kann, daß man sich etwa einige Verbandstreifen auch selbst kaufen und einen Schnupfen gar mit einem selbstbezahlten Tee auskurieren könnte. Wenn es ginge, würde man sich die Rohstoffe für das Mittagessen (dessen Einnahme doch unter Umständen „der Gesundheit dient“) ebenso verschreiben lassen wie den Wein (als „Medizinalwein“), um Depressionszustände vor Beginn der nächsten Arbeitswoche auszuheilen.

Bei vielen hat das Vorhandensein der Leistungsbereitschaft der Sozialversicherungsinstitute jedenfalls nicht nur das Gefühl der Sicherheit entstehen lassen, sondern auch Anreize für Minderleistungen geschaffen. So gibt es wieder, wie im .Mittelalter, eine besondere Art von Bettlerunwesen, Marodeure, Menschen, die eine Bresthaftigkeit simulieren und mit einer komischen Aufdringlichkeit ihre Krankheiten zur Schau stellen, Menschen, die sich nicht bei der Klosterpforte um die Mittagssuppe, sondern bei den Aerzten um die Krankschreibungen und die Rezepte anstellen. Die Hoffnung, bei Weiterzahlung des Lohnes krank sein zu dürfen (Krankenbehandlung bis zu 52 Wochen), macht viele wirklich krank, die Erfahrung, daß man bei Beherrschung der einschlägigen Bestimmungen trotz rbeits-unwilligkeit seine Arbeitslosenunterstützung bekommen könnte, verführt Anfällige zur Faulheit. Alle Welt weiß, wer sich bisweilen einen Erholungsaufenthalt verschafft. Es gibt Menschen von keineswegs angegriffener Gesundheit, die es verstehen, die Kurorte mit einer bewunderungswürdigen Regelmäßigkeit jedes Jahr auf Kassenkosten zu bevölkern.

Die Dinge sind bekannt, werden aber leider nicht ernst genommen. Vielfach sind die Diskussionen auch von Ressentiments und von politisch-taktischen Ueberlegungen überdeckt, weil es sich keine der Parteien mit den Rentnern und den anderen Anspruchsberechtigten der Sozialversicherungsinstitute verderben will. Man kommt von „bürgerlicher“ Seite gern mit den „hohen Verwaltungskosten der Sozialversicherung“. Es soll nicht bestritten werden, daß von den Instituten provokativ wirkende Bauten und nicht immer zweckmäßige Ambulatorien errichtet werden; man kann über die zuweilen einseitige und eher den politischen als den fachlichen Befund berücksichtigende Personalpolitik der Sozialversicherungsinstitute verschiedener Meinung sein: Die Verwaltungsausgaben der Krankenkassen jedenfalls wurden auf 5,5 Prozent gesenkt.

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Gerade zur rechten Zeit ist nun ein wohlabgewogenes Gutachten der Sozialwissenschaft-

liehen Arbeitsgemeinschaft erschienen („D i e Situation der österreichischen Sozialversicherun g“), das nicht nur einen Katalog von Argumenten darbietet, sondern vor allem Material vorlegt, ohne das jede Stellungnahme unsachlich wirkt.

Nach Ansicht der Gutachter kommt es nicht darauf an, die Frage zu lösen, woher neue Mittel zur Deckung der Defizite herkommen sollen, sondern vor allem, in welcher Form die Kosten verringert werden können. Dabei darf man nach Ansicht der Autoren das Fürsorgeprinzip zwar nicht verlassen, anderseits aber müssen alle Maßnahmen ergriffen werden, die eine mißbräuchliche Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen weitgehend verhindern.' Dazu kommt noch, daß manche Versicherte geradezu gezwungen werden, die Sozialversicherung in Anspruch zu nehmen, etwa dann, wenn eine kleine Erkrankung einen kurzfristigen, trotzdem aber formell zu rechtfertigenden Arbeitsausfall zur Folge hat, obwohl sie auch ohne Arzt ausgeheilt werden könnte.

Das Prinzip der Fürsorge, das ja der Sozialversicherung am Anfang Pate gestanden war, wird auch nicht verlassen, wenn ein gewisser Risikoselbstbehalt eingeführt wird, etwa bei der Beanspruchung von Medikamenten. . , .

Jedenfalls nimmt der M e d i k a m e n“t e n-mißbrauch Formen an, - die auch volkswirtschaftlich nicht mehr zu vertreten sind. Zwischen 1951 und 1956 sind die Kosten für die Bezahlung der Arzneimittel von etwa 11 auf etwa 16 Prozent (das ist um fast 50 Prozent) gestiegen. Anderseits sind die Krankenversicherungsbeiträge (siehe „Gewerkschaftliche Rundschau“, Dezember 1957) geringer als in der ersten Republik (bis 1934: 8,3 3 Prozent maximal, jetzt 7 Prozent beziehungsweise 4,5 Prozent bei den Angestellten). Ebenso scheint es angezeigt, gewisse Methoden zu übernehmen, wie sie schon bei der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung angewendet werden: von einem bestimmten Einkommen an bezahlt der Kranke den Arzt selbst und beansprucht dann eine Teilrückvergütung durch die Kassa. Auf diese Weise könnte

es vermieden werden, daß ein Generaldirektor in seinem Luxuswagen beim Kassenarzt vorfahrt, um seinen Krankenschein abzugeben, oder sich nach einem opulenten Abendessen den Arzt zum „Lever“ kommen läßt und ihn dann mit einem Krankenschein „entlohnt“. Freilich ließe sich nach meiner Meinung auch erwägen, den Plafond (die Höchstgrenze) bei der Beitragsbemessung aufzuheben und jeden aliquot seinem Einkommen (ab dem Plafond ohne Unternehmeranteil) seine Beiträge leisten zu lassen.

Das Absterben des Selbsthilfegedankens und des Prinzips der Solidarität hat jedenfalls Ausmaße angenommen, die das ganze System der Sozialversicherung gefährden können und jene merkwürdig-populäre Feindschaft gegen die Institution der sozialen Sicherheit haben entstehen lassen, welche Reorganisationsmaßnahmen so schwierig macht.

Schließlich erbringen die Sozialversicherungsinstitute ihre Leistungen nicht etwa aus einem Deckungskapital, sondern in einer Art Umlageverfahren; sie betrachten das, was sie einnehmen, fast als „durchlaufende Post“ und geben es auf der anderen Seite wieder aus. Auf diese Weise ist aber eine bedenkliche Verbindung zwischen der Summe aller Beitragsgrundlagen, also irgendwie dem Nationaleinkommen, und dem Aufwandsoll geschaffen worden. In einer Zeit der Depression steigen die Leistungsanforderungen vor allem aus dem Titel der Arbeitslosigkeit (die Krankentage je Arbeit-

nehmer gehen dagegen zurück), während das Beitragsaufkommen sinkt. Was dann? Wir denken doch hur noch in Einkommens- und Wohlfahrtssteigerung und haben wahrscheinlich nicht mehr die Kraft, eine länger dauernde Depression zu ertragen. Was Kürzung der Aktiveinkommen und Reduktion der Sozialversicherungsleistungen massenpsychologisch und politisch (partei-und staatspolitisch) bedeuten, wagen wir gar nicht auszudenken. Dazu kommt, daß die Beanspruchung der Sozialversicherungsinstitute durch die Arbeitsfähigen wohl reduziert werden kann, nicht aber durch die wachsende Schicht der Nicht-mehr-Arbeitsfähigen, die zum Teil ganz erhalten werden müssen, zum Teil erheblich krankheitsanfälliger sind als die Arbeitsfähigen. Im Jahre 1910 waren nur 6 Prozent der Versicherten älter als 65 Jahre, heute sind es 11 Prozent (die nur beanspruchen, ohne Beiträge leisten zu können).

Es wäre daher angezeigt, jetzt, und nicht erst, wenn uns die harte Gesetzlichkeit der ökonomischen Entwicklung dazu zwingt, die Kosten der Sozialpolitik zu verringern und alle Anreize zur grundlosen Inanspruchnahme der Sozialversicherung zu beseitigen. Alle Maßnahmen müßten aber in einer Atmosphäre der Sachlichkeit und nicht der Hysterie erwogen werden, um so mehr, als die Sozialversicherung in Oesterreich offenbar auch den Rang eines staatspolitischen Phänomens hat.

Jedenfalls sollte man aber nicht übersehen: Die Sozialpolitik hat auch in Oesterreich da und dort, eine Grenze erreicht, jenseits welcher sie zu einer besonderen Form der Ausbeutung der Leistenden durch Sozialparasiten wird.

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