Amerikanische Selbst-Rechtfertigung

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Im Text amerikanischer Intellektueller zum "Krieg gegen den Terror" (Nr. 11, S. 5) gibt es keine neuen geistigen Konturen.

Für Europäer eher überraschend kam im Februar eine Erklärung von 60 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Amerika, darunter ein Drittel auch international bekannte Geschichtsphilosophen und Sozialtheoretiker wie Amitai Etzioni, Francis Fukuyama, Samuel Huntington und Michael Walzer. Sie stellten dieser Erklärung in Stichworten "fünf fundamentale Wahrheiten" voran, die für "alle Menschen ohne Unterschied" zutreffend seien. Und sie folgerten, mit Bezug auf den 11. September 2001, aus diesen Wahrheiten Aussagen über "amerikanische Werte", über Gott und die Rolle der Religion, besonders ausführlich allerdings über die Voraussetzungen für einen "gerechten Krieg". Die Grundabsicht der Erklärung war, amerikanische Werte mit gewissen Zusätzen in einem sozialphilosophischen Brückenschlag zur globalen Gültigkeit einer Art "Weltcharta" zu erheben und den Krieg, den die USA gegen den Terrorismus führen - und führen werden? - moralphilosophisch zu rechtfertigen.

Drei der "fünf Wahrheiten" lehnen sich deutlich, bis hinein in den Wortlaut ihres Verfassers Thomas Jefferson, an die Unabhängigkeitserklärung Amerikas vom Jahre 1776 an.

Damals hieß es:

"We hold these truths

to be self evident

that all men are created equal,

that they are endowed by their

Creator

with inherent and unalienable

rights,

that among these

are life, liberty and the pursuit of

Happiness."

Zum Vergleich: In Punkt eins ihrer "Wahrheiten" schreiben die amerikanischen Autoren 2002:

"All human beings are born free

and equal in dignity and rights."

An Stelle des "Pursuit of Happiness", des Glücksstrebens, das in der Unabhängigkeitserklärung als Recht festgehaltenen wird, präsentieren die Unterzeichner 2002 das Recht auf "human flourishing", das in poetischer Metaphorik auf menschliche Entfaltung hinzudeuten scheint.

Unfrei geboren

Schon beim ersten Satz der Deklaration, dass alle Menschen "frei geboren und in Würde und Rechten einander gleich seien", zuckt man zusammen. Wie fatal unfrei geboren sind die durch Armut und kulturelle Abwertung benachteiligten Menschen und die Angehörigen niederer Kasten. Sexueller Verstümmelung durch Exzision preisgegeben, sind noch immer in der Welt Millionen von eben geborenen Mädchen. Die haben da diesbezüglich einfach keine Freiheit.

Der christlich gläubige Aufklärer des 18. Jahrhunderts Thomas Jefferson war da vorsichtiger. Er sprach in dem welthistorischen Dokument der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung davon, dass alle Menschen von ihrem Schöpfer (Creator) intentional gleich erschaffen (created), als Gleiche mit den gleichen Rechten von Gott aus "vorgesehen" seien. Er traf damit eine theologische Aussage. Lässt man sich sozialphilosophisch auf die Geburt ein, so springen allerdings sofort die Unterschiede der Bedingungen ins Auge, unter denen Menschen geboren werden: in manchen Regionen Afrikas überlebt nur jedes zweite Neugeborene das erste Lebensjahr.

Bei der ersten Lektüre des amerikanischen Texts von 2002 mag es nur als kleiner semantischer Unterschied erscheinen, dass da statt von "geschaffen" von "geboren" die Rede ist. Aber zwischen den beiden Begriffen liegen Welten. Ohne Zögern wird in der Erklärung 2002 davon ausgegangen, dass alle Menschen in der Welt, in der die Überlebens- und Wohlfahrtschancen so unglaublich ungleich verteilt sind, angeblich "gleich" geboren werden. Im Grunde zeigt sich daran schon eine der beiden ganz gravierenden Schlagseiten des Manifests. Es vertritt eine erstaunlich naive Form eines idealistischen Konservativismus.

In Amerika gab es, wie Alexis de Tocqueville in seiner "Demokratie in Amerika" (1832) schon erkannte, keine Klassengesellschaft. Bei allen realen Benachteiligungen von rassischen und ethnischen Gruppen bis hin zu krassem Elend, gab und gibt es in der amerikanischen Geschichte keinen Klassenkampf und keine überzeugende philosophisch-politologische Artikulation einer sich polarisierenden Gesellschaft. Man entwarf auch keine politisch-soziologischen Leitbilder jeweils außerhalb des gesellschaftlichen Systems, wie sie in Europa, der "Mutter der Revolutionen" (Friedrich Heer), immer wieder entstanden.

Der wohl populärste amerikanische Arbeiterführer, Samuel Gompers (1850-1924), fasste sein Programm in dem einzigen Wörtchen "more" - mehr Geld, höhere Löhne - zusammen. Bis heute ist diese Ideologie der "Mehrung" für die USA zentral geblieben. Mehrung und Erweiterung, statt qualitativer gesellschaftlicher Innovation sind auch der Tenor der Stellungnahme der Unterzeichner des Manifests "Wofür wir kämpfen". Man kämpft für das, wofür man immer schon war. Kann man in der Tat von den sozial- und rechtsphilosophischen Freiheits- und Sicherungsparolen des 18. Jahrhunderts aus, die dem Manifest 2002 zu Grunde liegen, eine Pax Americana in der Welt und für die Welt heute entwerfen oder gar legitimieren?

Schweigen zur Intifada

Die Intifada 2000 ist aus Armut, aus Not und Verzweiflung der Palästinenser, aus dem Gefühl ihrer Nicht-Anerkennung und chronischen Unterlegenheit hervorgetrieben worden. Was hat das Manifest von kommunitaristisch und gerechtigkeitstheoretisch inspirierten Verfassern zu einer Aggressivität zu sagen, welche die Menschen Palästinas zu ihrer wenn auch aufgeputschten und indoktrinierten Selbstzerstörung treibt? Dieser Selbstmord im Nahen Osten ist Teil einer sozialen Bewegung geworden, in seiner Art neu in der Menschheitsgeschichte. Der Text schweigt zu den qualvollen Zerstörungs- und Selbstzerstörungsprozessen. Er verurteilt zu Recht das "Töten im Namen Gottes". Macht man es sich damit nicht etwas zu leicht? Sieht man nicht die Verzweiflung einerseits und die Manipulation anderseits, wodurch für die kombinierte Selbst- und Anderen-Vernichtung die höchsten erreichbaren Symbole - darunter der Name Gottes - herangezogen werden?

Das Manifest beruft sich in einem schönen Satz auf Martin Luther King jr., dass "der Bogen des moralischen Universums lang" sei und sich "in Richtung auf Gerechtigkeit, nicht nur für die wenigen oder die Erfolgreichen, sondern für alle hinneigen" müsse. Das wäre der Ansatz für den qualitativen Sprung einer amerikanischen Deklaration zum Weltgewissen und zum Welt-Frieden gewesen.

Als sie um die Zeitenwende zur Weltmacht aufrückten, und der Dichter Vergil, der "Vater des Abendlandes" ihre weltgeschichtliche Berufung verkündete, war es den Römern gelungen, die Pax Romana zu erfinden. Viele Götter aus allen Weltgegenden hatten in Rom selber ihre Tempel. Nur den großen und grundsätzlichen Anspruch von Judentum und Christentum suchten die Römer durch Jahrhunderte hindurch blutig auszumerzen oder zu unterdrücken. Ihr stärkster Gott war doch der Kaiser. Welche Welt-Vision, über ihren "Kaiser" hinaus, haben nach 2000 Jahren Christentum die Amerikaner heute anzubieten?

Gewinnt eine Macht Ordnungsfunktionen für die ganze Welt, so ist es verständlich, dass sie vor allem mit dem Schutz für sich selber materiell und geistig befasst ist. Besonders, wenn sie wie die USA am 11. September 2001 so ins Mark getroffen wurde. Aber gerade dadurch besteht die Gefahr, durch "Mehr vom selben" (Paul Watzlawick) sich in eine, wenn auch militärisch gesicherte Sackgasse zu manövrieren. Es ist nicht Isolationismus, der die USA heute einengt, aber es droht eine Stagnation in der Mentalität.

18. Jahrhundert

Im Manifest findet sich kein Ringen, die Andersartigkeit des Anderen und der vielen Anderen in der Welt anzuerkennen und wenn mit diesen auch als Übermacht "partnerschaftlich" zu leben. Es gibt keine neuen Töne in dem neuen Text. Er ist, mit einigen kleinen Anläufen zur Selbstkritik, eher ein Regress auf Begriffe und Vorstellungen des 18. Jahrhunderts. Für die Bejahung einer offenen Kultur, die in dem "weit gespannten Bogen" der Globalisierung auch eine geistige Kontur verleihen könnte, fehlen in der US-Deklaration 2002 die Elemente. Sie nimmt sich letzten Endes doch wie eine Selbstrechtfertigung der kriegerischen Intervention in Afghanistan aus und wie eine vorwegnehmende Legitimation der in Richtung der Regierungslinie allenfalls weiterhin auszulösenden Kriegshandlungen.

Sollen wir im Namen immer wieder beschworener "amerikanischer Werte" - ein Institut gleichen Namens war offenbar federführend in der Redaktion des Manifests - auch moralisch auf Verstrickungen im Nahen Osten, besonders im Irak, vorbereitet werden? Das lag, wenn überhaupt, höchstens im Sinn einer Minderheit von Unterzeichnern. Besonders sorgfältig wird nämlich moral- und sozialphilosophisch im Manifest ein Pro für den "gerechten Krieg" ausgearbeitet. Es wird sogar ein jüdisch-christlich-muslimischer Konsens für den gerechten Krieg behauptet. Als ob uns historische Texte, und seien sie noch so sublim wie die des zitierten Hl. Augustinus, die lange vor dem apokalyptischen Schrecken der hochmechanisierten und massenhaft sich ausbreitenden Zerstörungen durch Bombardierungen, Raketenbeschuss und Atombombe formuliert worden waren, heute in der Tat weiterhelfen könnten.

Viele der Autoren des Manifests, das die amerikanischen Werte für den Weltmaßstab propagiert und das Monster Krieg rehabilitiert, sind die Nutznießer der Politikferne und gut bezahlten Ruhe des amerikanischen Universitätssystems. Wir europäischen Hochschulleute und Wissenschaftler hängen an viel kürzerer Leine der Politik. Sollten wir nicht aus der Not eine Tugend machen und uns dazu inspirieren lassen, aus dem alten Schatz europäischer Kultur und Theorienbildung ein unkonventionelles Panorama der neuen Werte zu skizzieren? Wir müssten es mit Farben, bunter als sie den Aufklärern des 18. Jahrhunderts zur Verfügung standen, tun, um Visionen vom gebändigten Risiko in der Weltkultur mit wechselseitiger Toleranz und Buntheit zu entwerfen.

Der Autor ist em. Professor für Soziologie, Universität Wien.

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