"Angst hat große Augen"

19451960198020002020

Eine neue Biographie durchleuchtet akribisch Stalins Schreckensherrschaft. Vor der aus paranoider Angst gespeisten Willkür des Diktators konnte niemand sicher sein.

19451960198020002020

Eine neue Biographie durchleuchtet akribisch Stalins Schreckensherrschaft. Vor der aus paranoider Angst gespeisten Willkür des Diktators konnte niemand sicher sein.

Werbung
Werbung
Werbung

Furcht ist das alles beherrschende Element einer Diktatur. Nicht nur die Beherrschten sind angesichts der Willkür absolut gesetzter Macht von lähmender Furcht erfüllt. Auch den Herrscher treibt die Angst vor Entmachtung, vor einem Putsch und vor vollständigem Kontrollverlust in immer bizarrere Formen des Terrors und der Unterdrückung.

So wurde Stalin zum Massenmörder. Seine von paranoider Angst genährte Willkür konnte jeden treffen, ob engster Mitarbeiter oder fernster Genosse. Sie alle wurden kurzerhand skrupellos "liquidiert". Sein jüngster Biograph Oleg Chlewnjuk, der als herausragender Stalin-Forscher seit über zwanzig Jahren am Staatsarchiv der Russischen Föderation tätig ist, rechnet vor: "Die fortgesetzte Repression und die ständigen Säuberungen unter den Staatsbediensteten hielten alle in einem Zustand angespannter Mobilisierung. Das Ausmaß der dabei angewandten Gewalt lässt sich relativ genau in Zahlen fassen: Laut amtlichen Unterlagen wurden zwischen 1930 und 1952 etwa 800.000 Menschen erschossen. Die Zahl der Opfer des Regimes liegt jedoch viel höher, da Stalins Sicherheitsapparat häufig tödliche Foltermethoden anwandte und die Bedingungen in den Arbeitslagern oft so schlimm waren, dass diese de facto zu Todeslagern wurden. Zwischen 1930 und 1952 wurden etwa zwanzig Millionen Menschen zur Haft in Lagern, Strafkolonien oder Gefängnissen verurteilt. Im Durchschnitt wurden während Stalins Herrschaft jedes Jahr mehr als eine Million Menschen erschossen, inhaftiert oder in nahezu unbewohnbare Gebiete der Sowjetunion deportiert."

Argwohn und Vernichtungssucht

Eine Epidemie der Angst zu erzeugen, das war Stalins Methode jahrzehntelangen Machterhalts. Nicht von ungefähr lautet ein russisches Sprichwort: "Angst hat große Augen." Die Frage bleibt: Wie konnte sich ein ehemaliger Priesterseminarist aus dem georgischen Tiflis zu einem solchen Despoten und Menschenschinder entwickeln? Kindheit und Jugend des 1878 geborenen Schustersohns Joseph Wissarionowitsch Dschugaschwili, der sich Stalin nannte, bieten wenig Erklärung für die Entwicklung einer offenkundigen psychischen Störung. Eher war es die Panik vor Kontrollverlust, die den stets kränkelnden Sowjetführer im Krokodilbassin seiner Politbüro-Konkurrenten in mörderische Orgien von Argwohn und Vernichtungssucht trieb.

Seine Karriere im Revolutionsfuror der Bolschewiken war spät in Gang gekommen. Zunächst war Stalin Kundschafter. Im Frühjahr 1913 war er in Wien, wohnte in Meidling, sondierte die Lage und schrieb einen Artikel über den Umgang der Partei mit ethnischen Minderheiten. Doch schon im Juni desselben Jahres, nach seiner Verhaftung, wurde er für vier Jahre nach Sibirien verbannt. Erst im Frühjahr 1917 kam er frei und eilte sofort in das damals Petrograd genannte St. Petersburg, wo inzwischen die Revolution ausgebrochen war. Innerhalb der Führung der Bolschewiken nahm er zunächst einen gemäßigten, kompromissbereiten Standpunkt ein. Doch Lenin drängte aus dem Schweizer Exil auf Radikalisierung der Revolution und setzte diese nach seiner Ankunft in Russland auch mit eiserner Härte durch. Bei den Wahlen für das Zentralkomitee auf dem Parteitag im April 1917 stärkte er Stalin den Rücken und gewann ihn damit zum Verbündeten. Das änderte sich mit Stalins denunziatorischem Vorgehen gegen führende Kommandeure der Roten Armee. Trotzki und Lenin konnten dies nicht dulden. Seither begegnete Stalin dem Genossen Trotzki mit Feindschaft und Lenin zumindest mit Misstrauen.

Lenins Warnung

Dieses Misstrauen war gegenseitig. Ende 1923 schrieb der bereits sehr kranke Lenin in seinem bekannten "Brief an den Parteitag": "Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen." Und er fuhr fort: "Stalin ist zu grob, und dieser Fehler, der in unserer Mitte und im Verkehr unter uns Kommunisten erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von dem Genossen Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist Ich glaube, unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Spaltung und unter dem Gesichtspunkt der von mir geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki ist das keine Kleinigkeit oder eine solche Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung gewinnen kann."

In den letzten Wochen seines politischen Lebens versuchte Lenin vehement, die Macht Stalins zu beschränken. Er fand dafür gewichtige Mitstreiter im Politbüro. Indes, nach seinem Tod 1924 und den darauf folgenden innerparteilichen Diadochenkämpfen triumphierte Stalin trickreich, indem er kurzerhand seinen Rücktritt als Generalsekretär anbot - der prompt nicht angenommen wurde.

Ende 1928, nach seinem Sieg über Trotzki, Kamenew und Sinowjew, war die linksgerichtete Opposition im Politbüro zerschlagen. Stalin steuerte nun die unumschränkte Macht an. Wie rücksichtslos er gegen das eigene Volk vorgehen konnte, zeigte sich erstmals Anfang der Dreißigerjahre, als infolge seiner brachialen Industrialisierung und hemmungslosen Kollektivierung des Landbesitzes samt Vernichtung der Kulaken eine Hungersnot ausbrach, die bis zu sieben Millionen Todesopfer forderte. Stalin begegnete dem Ergebnis der eigenen fehlgeleiteten Politik mit nichts als brutaler Härte, die in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre in sogenannten "Säuberungswellen" kulminierte: Erst wurde ein Großteil der alten Garde der Partei erschossen und durch eine neue, dem Diktator treu ergebene junge Funktionärsschicht ersetzt. Ab 1937 richtete sich dann die Paranoia des Alleinherrschers auch gegen die sowjetische Bevölkerung. Hunderttausende unschuldiger Bürger fielen dem von Stalin entfesselten "Großen Terror" zum Opfer. Seine Gräueltaten wurden später dem Innenkommissar Jeschow in die Schuhe geschoben. Chlewnjuk zitiert jedoch genügend neues Archivmaterial, das Stalins Rolle als Anstifter und Organisator beweist. "Der Seelenfrieden des Eroberers kann nur durch den Tod der Eroberten hergestellt werden", lautet ein Satz Dschingis Khans, der sich unterstrichen in einem der Bücher in Stalins Bibliothek auffinden lässt.

Russischer Hang zum Autoritären

Stalin lebte noch bis 1953, gewann 1945 an der Seite der Aliierten den "Großen Vaterländischen Krieg" und setzte bis zuletzt seine an Iwan dem Schrecklichen und Peter dem Großen geschulte gnadenlose Machtpolitik fort. Sein größtes Verbrechen indes bleibt der Massenmord an Hekatomben unschuldiger Bürger in den Dreißigerjahren. Sein Biograph Chlewnjuk urteilt unmissverständlich: "Am Ende seiner Herrschaft war ein großer Teil der sowjetischen Bevölkerung, wenn nicht gar eine Mehrheit, irgendwann einmal verhaftet, in einem Lager interniert, zwangsumgesiedelt oder einer milderen Form der Misshandlung unterworfen worden."

Umso fassungsloser lässt den Zeitgenossen, der Erkenntnisse aus der Geschichte auf die Gegenwart zu beziehen sucht, die im heutigen Russland heftig wieder auflebende Bewunderung für eines der größten politischen Scheusale der Menschheitsgeschichte zurück. Es scheint, als sei der Hang zum autoritären Charakter mit unberechenbarem Führungsstil der russischen Geschichte eingeschrieben.

Stalin

Eine Biographie

Von Oleg Chlewnjuk

Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm.

Siedler Verlag, München 2015, 590 Seiten, gebunden, € 29,99

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung