Annäherung an die Freud’schen Dinge

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Die Frage, was die Psychoanalyse rund einhundert Jahre nach ihrer Entstehung noch zu leisten vermag, bedeutet immer auch die Frage, was Psychoanalyse überhaupt ist. Die Kuratorin Lydia Marinelli, die über ein Jahrzehnt als Historikerin am Wiener Freud-Museum tätig war, ist in Studien und Ausstellungsprojekten dieser komplexen Frage nachgegangen, ohne dabei die immer gleichen Mythen zu bedienen. Ihre erfrischend neuen Blickwinkel auf die „Freudschen Dinge“ machen Marinellis Schriften, die jetzt in drei Bänden erschienen sind, zu einem Lesevergnügen. Sie revidierte das Klischee vom Vorrang der Mündlichkeit in der Analyse, indem sie mit ihrer Aufarbeitung der Publikationsgeschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlags auf die Bedeutung des Schreibens und Lesens für die Frühgeschichte der Psychoanalyse hinwies. Vor der Couch spielte zunächst der Schreibtisch eine bedeutende Rolle – hier unterhielt Freud von 1887 bis 1904 rege Korrespondenz mit dem deutschen Biologen und Arzt Wilhelm Fließ und schrieb die ersten Fallgeschichten nieder, auch seine berühmte Selbstanalyse.

Öffnung der Psychoanalyse

Marinellis gemeinsam mit Andreas Mayer verfasste Studien zu Freuds „Traumdeutung“ zeigen den Einfluss der Laienleserschaft auf die Fort- und Weiterentwicklung dieses Gründungsbuches der Psychoanalyse – ein Widerspruch zum Bild Freuds als einsames Forschergenie. Indes handelt es sich dabei keinesfalls um Ketzerei. Vielmehr spricht aus Marinellis Arbeiten eine tiefe Verehrung für Freud und sein Werk.

Internationalen Ruf erwarb sich Lydia Marinelli mit all jenen Ausstellungen, die sie seit 1995 – dank der Förderung und Unterstützung durch das Wiener Freud-Museum sowie die Sigmund-Freud-Privatstiftung – realisieren konnte. Es gelang ihr, sich dem Gesamtphänomen Sigmund Freud anzunähern. Seine exzentrische Sammelleidenschaft für antiquarische Figuren antiker Götter, die übrigens, wie auch die Zigarrensucht, im Zuge seiner Selbstanalyse nie thematisiert wurde, nahm Marinelli zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit der Geschichte psychoanalytischer Theoriebildung. Freuds Sammellust konnte so zum Gegenstand einer Ausstellung in der Berggasse 19 werden, die eine intime Annäherung an den Pionier der Seelenerforschung ermöglichte.

Die Sammlung suchen Besucher des Wiener Freud-Museums vergeblich. Diese sowie das Mobiliar der Wohnung und Praxis befinden sich seit der Flucht Freuds vor den Nazis in ihrem britischen Asyl, dem heutigen Londoner Freud-Museum. Das Haus in der Berggasse als Gedächtnisort ernst zu nehmen, wurde daher zu einem weiteren Ziel von Marinellis Studien, die sie in der Ausstellung „Freuds verschwundene Nachbarn“ über das Schicksal der jüdischen Bewohner des Hauses auf eindringliche Weise sichtbar machte. Kein Manko, dass der Ort „Berggasse 19“ vielen Besuchern eher ein Wallfahrtsort der Psychoanalyse zu sein scheint, an dem der Mythos „Freud“ greifbar wird, fördert er doch das Interesse für einen Schöpfer und sein reichhaltiges Werk. Lydia Marinelli hat sich der Dialektik von Marginalisierung und Vereinnahmung, der die Psychoanalyse stets ausgesetzt war, in ihren facettenreichen und verständlichen Arbeiten angenommen und damit eine seit Freuds Lebzeiten kaum mehr erreichte Öffnung der Psychoanalyse für Geschichts- und Kulturwissenschaft erreicht.

Tricks der Evidenz

Zur Geschichte psychoanalytischer Medien. Von Lydia Marinelli. Turia & Kant 2009

287 S., Geb., e 29,—

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