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Manche Leistungen des sozialen Systems sind nur mehr historisch zu begründen. Veränderungen werden daher unvermeidbar sein.

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Manche Leistungen des sozialen Systems sind nur mehr historisch zu begründen. Veränderungen werden daher unvermeidbar sein.

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Nach den Diskussionen der letzten Wochen ist es wohl Allgemeingut, daß das Netz der sozialen Sicherheit vor allem an zwei Punkten zu reißen droht: Bei der Finanzierung der Alterssicherung und der Gesundheitsversorgung. Daß auch weitere soziale „Leistungstöpfe" leer sind - wie etwa der Fonds, aus dem die Ansprüche von Arbeitnehmern im Fall der Insolvenz des Arbeitgebers gesichert werden - sickert allerdings nach wie vor nur langsam ins allgemeine Bewußtsein. Dabei zeigen durchaus einfache Überlegungen, daß unsere Gesellschaft Rechnungen ohne den Wirt macht.

■ Pensionsversicherung: In der Altersversorgung läßt sich dies - beispielsweise unschwer anhand des gedachten Generationenvertrages zeigen, auf dem unser Pensionssystem beruht: Wenngleich das Recht der Altersversorgung seit seiner Entstehung in vielen Punkten Änderungen erfahren hat, sind doch wesentliche Determinanten des Systems unverändert geblieben, obwohl sich die reale Lebenswelt massiv verändert hat: Vor allem haben die Tatsachen, daß Menschen heute länger leben und im Schnitt deutlich weniger Kinder in die Welt setzen als früher, praktisch keinen Niederschlag im Beitrags- und Leistungsrecht gefunden. Daß unter solchen Bedingungen der Generationenvertrag nicht halten kann, ist unschwer einsichtig (siehe Seite 20).

■ Krankenversicherung: Vergleichbar ist die Situation in der Krankenversicherung: Die Krankenkassen hatten zu Anbeginn die Aufgabe, für relativ klar umrissene Großrisken einzustehen, die den typischen Arbeiterhaushalt finanziell überforderten -nämlich die Rechnung von Arzt, Apotheker und Spital.

Alle Determinanten dieses Systems haben sich seither massiv verändert: Die Entwicklung der Medizin hat zu einer Explosion diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten geführt, die Kosten für Heilmittel und die Möglichkeiten ihres Einsatzes sind extrem gestiegen; das Anspruchsverhalten der Patienten hat sich massiv verstärkt.

Gleichzeitig sind Teile dieser Ris-ken heute angesichts veränderter sozialer Umstände für den einzelnen durchaus verkraftbar: Immerhin könnte heute beispielsweise ein Großteil der Bevölkerung die Grundvergütung für die ärztliche Hilfe (bei Gebietskrankenkassenversicherten zirka 250 Schilling pro Quartal) aus Eigenem aufbringen. Auch die Zuzahlung einiger Schilling aus Kassenkosten zu Luxusbrillenfassungen ist rational nicht mehr begründbar.

Nur punktuell verändert wurde freilich das Leistungsrecht. Blickt man auf die einschlägigen gesetzlichen Regelungen, verspricht das Krankenversicherungsrecht im Grunde genommen nach wie vor undifferenziert umfassende medizinische Versorgung.

Vor diesem Hintergrund kann man leicht sehen, daß die Finanzierungsanforderungen des Systems der sozialen Sicherheit steigen müssen. Geht man nun davon aus, daß auf die Dauer auch die Politik vor den strukturellen Finanzierungsproblemen nicht kapitulieren kann, läßt sich der Schluß ziehen, daß es in absehbarer Zeit zu Veränderungen im Leistungsrecht kommen wird, die den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen werden.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, möchte ich dabei vorweg betonen: Ich bin davon überzeugt, daß jeder Aspekt des derzeitigen Leistungsrechts historisch legitim war und auch heute noch für sich genommen sachlich geseelfertgt werden kann. Dennoch hieße es, sich in den eigenen Sack lügen, wollte man vor der Notwendigkeit auch grundlegender Veränderungen im Leistungsrecht die Augen verschließen.

Dabei sind viele unterschiedliche Maßnahmen vorstellbar: Im Pensionsrecht könnte man - unter Wahrung von Übergangsfristen - etwa den Bezug von Doppelpensionen oder von Pensionen neben Erwerbseinkommen verhindern; auch die Anhe-bung des gesetzlichen Pensionsalters ist früher oder später zu erwarten.

In der Krankenversicherung wird bereits jetzt vielfach überlegt, sozial gestaffelte Selbstbehalte einzuführen; und daß bei Kuren und ähnlichen Leistungen Einschränkungen zu erwarten sind, ist ebenfalls unschwer zu prognostizieren. Bei alledem wird man aber das Gefühl nicht los, daß es sich hier um bloß punktuelle Maßnahmen handelt, die weniger von klaren Konzepten als von dvÄeiwbMehr-einnahmen getragen sind. Es ist daher sinnvoll, im Hinblick auf Funktion und Wesen von Sozialleistungen zu fragen, in welchem Maß ihr Bezug mit Selbstbehalten verbunden sein soll (siehe Beitrag unten und Seite 20).

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