Armenien: Aufbruch nach dem Aufstand?

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Eine Massenentlassung von Ministern: So reagiert der armenische Staatschef Sargsyan auf die Bürgerproteste im Sommer. Aber die wirtschaftliche und politische Lage in der von Moskau abhängigen Republik bleibt höchst angespannt. Eine Analyse.

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Eine Massenentlassung von Ministern: So reagiert der armenische Staatschef Sargsyan auf die Bürgerproteste im Sommer. Aber die wirtschaftliche und politische Lage in der von Moskau abhängigen Republik bleibt höchst angespannt. Eine Analyse.

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Es erweckt ganz den Eindruck, als habe der armenische Präsident Serzh Sargsyan aus den Ereignissen im Sommer seine Lektion gelernt. Mit Ende September wurden bereits sieben Minister ausgetauscht, weitere Wechsel sind im Gespräch. Als neuer Premierminister dient Karen Karapetyan, ehemaliger Bürgermeister von Jerewan und für seine Karriere bei Gazprom bekannt, dem gute Beziehungen zu Russland nachgesagt werden. Dies könnte dem Land weitere finanzielle Unterstützung von Russland sichern. Auch wenn ein Regierungswechsel bei weitem keinen strukturellen Wandel hervorbringt, symbolisiert der Amtsrücktritt dennoch eine Form des Eingeständnisses.

Am 17. Juli besetzt eine bewaffnete Rebellengruppe in den frühen Morgenstunden eine Polizeistation im Jerewaner Stadtteil Erebuni. Bei den Auseinandersetzungen kommt es zu mehreren Verletzten, ein Polizist wird getötet, rund sieben weitere als Geiseln genommen.

Die Besetzer nennen sich "Sasna Tsres", auf Deutsch "Die Teufelskerle von Sasun", nach einem armenischen Heldengedicht. Sie bestehen aus Veteranen des Bergkarabach-Krieges und einer kleinen Gruppe politisch Oppositioneller, die außerparlamentarisch unter der Führung von Jirayr Sefilyan, der seit 20. Juni erneut in Haft sitzt, für einen radikalen politischen Wandel eintreten.

Gemeinsame Forderungen

Ihre gemeinsamen Forderungen: die Freilassung aller politischen Gefangenen und der Rücktritt von Präsident Serzh Sargsyan. In den sozialen Medien verbreitete die Gruppe einen Appell an die armenische Bevölkerung, sofort auf die Straße zu gehen und für die Befreiung des Heimatlandes zu kämpfen.

In den folgenden Tagen kommt es zu einer Welle an Sympathiebekundungen mit den Geiselnehmern. Obwohl die Mehrheit die Methode der Rebellen kritisiert, unterstützt sie doch ihre Ziele. Die Beweggründe der Protestierenden sind höchst unterschiedlich, allerdings sehen sie alle dieselben drei Problemfelder: eine politische Elite, die Korruption und Misswirtschaft betreibt, staatliche Repression und verstärkte Polizeigewalt, sowie ein nicht enden wollender Krieg mit Aserbaidschan. Je mehr Menschen sich auf den Straßen einfinden, desto vehementer wird gegen sie vorgegangen, die Empörung steigt. Es kommt zu massiven Ausschreitungen, massenhaften Verletzungen und zahlreichen Verhaftungen.

Als sich ein Mann schließlich auf offener Straße selbst anzündet, scheint der Gipfel der Eskalation erreicht - die Bilder vom verbrannten Körper werden über die digitalen Medien zum Symbol der nationalen Ausweglosigkeit.

Die Amtsinhaber in Armenien sind bereits an sommerliche Unruhen gewöhnt. In den vergangenen Jahren waren hohe Transportkosten, Pensionen und Steuern die Themen, die die Bevölkerung auf die Straße trieben. Doch diesmal scheint die Situation heikler als in den Jahren davor -die Protestierenden fordern nun den endgültigen Rücktritt der Regierung.

Wirtschaftliche Schieflagen

Um die wirtschaftliche Lage des Landes steht es seit Jahren schlecht. Die EU-Sanktionen gegenüber Russland, mit dem Armenien seit 2015 durch die Eurasische Union noch stärker verbunden ist, haben auch die Wirtschaft Armeniens geschwächt. Russland ist wichtigster Handelspartner und Arbeitgeber mehrerer tausend Arbeitsmigranten. So sank z. B. der Betrag an Rücküberweisungen armenischer Gastarbeiter aus Russland von 2,2 Millionen Dollar 2013 auf 1,6 Millionen im Jahr 2015.

Das auf den Trümmern 70-jähriger Sowjetherrschaft errichtete politische System kommt einer Oligarchie nahe. Über 40 Prozent der armenischen Bevölkerung lebt derzeit in Armut. Ihnen mangelt es sowohl an adäquater gesundheitlicher Versorgung, wie auch an rechtlichem Beistand und einer angemessenen sozialen Absicherung.

Die landesweite Armutsrate ist seit dem Amtsantritt von Sargsyan im Jahr 2008 um mehr als zehn Prozent gestiegen. Während die einen um ihren täglichen Lebensunterhalt kämpfen, sieht sich die politische Elite mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert und macht mit einem ausschweifenden Lebensstil Schlagzeilen.

Das unerwartete Aufkeimen des Konflikts um das Territorium Bergkarabach Anfang April scheint die Bevölkerung aus ihrer duldsamen Lethargie erweckt zu haben. Der seit mehr als 20 Jahren "eingefrorene Konflikt" diente der Regierung schon des öfteren als Vorwand zur Ablenkung und Vermeidung sozialer Unruhen im eigenen Land. Die plötzlichen Angriffe verdeutlichten so auch die instabile Situation.

Zahlreiche Freiwillige fuhren an die Grenze, um zu kämpfen, während die Regierung sich im Hintergrund hielt. Die bei den Kämpfen erlittenen territorialen Verluste kratzen am Nationalstolz. "Es zeigt, dass Sargsyan die Situation nicht unter Kontrolle hat. Wir haben nicht umsonst Jahrzehnte für dieses Land gekämpft", beklagt sich ein ehemaliger Soldat. Zu viele junge Soldaten seien im April an der Front gestorben, zu leichtfertig wurde Land aufgegeben, so die Erklärung.

Die besetzte Polizeistation wurde nach zwei Wochen geräumt, die Rebellen inhaftiert. Nun stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die kurzlebige Protestwelle auf den weiteren Kurs der Regierung hat. Mit unfreiwilliger Ironie stellte Sargsyan Anfang August in einer Ansprache fest, dass die Probleme in Armenien nicht durch Gewalt oder Waffen gelöst werden könnten. Zudem betonte er, dass er auf keinen Fall für Kompromisse im Bergkarabach-Konflikt bereit sei. "Nagorno-Karabach wird niemals Teil von Aserbaidschan werden. Das steht außer Frage."

Sinkende Unterstützung

Während das Aufrüsten in Armenien und Aserbaidschan weitergeht und Russland, das an beide Seiten Waffen liefert, kräftig daran verdient, scheint der Rückhalt der armenischen Bevölkerung nachzulassen. Der unerwartete Regierungswechsel im September ist ein Anzeichen dafür, dass Sargsyan versucht, die nationale Unzufriedenheit zu mindern.

Es sieht also ganz danach aus, als würde die Regierung die Zeit vor den Parlamentswahlen im Frühjahr 2017 noch nutzen, um Zuspruch zu finden. Fest steht, dass Sargsyan unlängst das Präsidialsystem in ein parlamentarisches verwandelt hat, was ihm auch nach seiner Amtszeit einen Machtanspruch einräumen könnte.

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