Armut ist vor allem Demütigung

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Wer nicht erwerbstätig, in der Ehe versorgt oder österreichischer Staatsbürger ist, fällt durchs Sozialsystem, kritisiert der Autor. Er ist Mitherausgeber eines dieser Tage erscheinenden Sammelbandes über die Zukunft der Arbeit.

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Wer nicht erwerbstätig, in der Ehe versorgt oder österreichischer Staatsbürger ist, fällt durchs Sozialsystem, kritisiert der Autor. Er ist Mitherausgeber eines dieser Tage erscheinenden Sammelbandes über die Zukunft der Arbeit.

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Wer heute arm ist, gehört zu den Verworfenen. Armut ist nicht Entbehrung, sondern Demütigung. Vor allem bietet sie eines nicht mehr: den Aspekt des Aussteigens. Es ist fast irreführend Arme als "Ausgegrenzte" zu bezeichnen. Zwar sind sie von den materiellen Segnungen unseres Wirtschaftssystems gründlich ausgeschlossen, aber nicht von diesem System selbst. Vielmehr sind sie seinen Zwängen am meisten ausgeliefert. Gerade die, die liegengelassen wurden, werden nicht mehr losgelassen. Die am meisten Ausgeschlossenen sind die am meisten Eingeschlossenen.

Wer nicht über die drei zentralen Säulen unseres Sozialsystems gesichert ist – 1. Erwerbsarbeit, 2. Ehe, 3. Staatsbürgerschaft – fällt durch. Die am stärksten von Armut betroffenen Gruppen der Wohnbevölkerung sind demnach auch Arbeitslose, Frauen und Migrantinnen. Ein Viertel aller Arbeitslosen lebt in armen Haushalten. Das Armutsrisiko ist fünfmal höher als in der Gesamtbevölkerung. Bei Alleinerzieherinnen beziehen nur 57 Prozent ein regelmäßiges Erwerbseinkommen, 10 Prozent sind arbeitslos, 14 Prozent in Karenz, 19 Prozent leben von Unterhaltszahlungen oder anderen Sozialleistungen. 70 Prozent der Familien, die zugewandert sind, müssen in Substandardwohnungen leben und arbeiten im Niedriglohnbereich.

Die Erosion der "Normalfamilie" geht Hand in Hand mit einer Erosion des "Normalarbeitsverhältnisses". Früher hieß der Weg: Schule, Ausbildung, Beruf; und das 40 Stunden in der Woche bis zur Pension. Diese zum größten Teil für Männer typische Erwerbs-Biographien lösen sich in vielen Bereichen auf. Zunehmende geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit und Niedriglohnjobs stürzen Familien trotz Erwerbsarbeit in schwere Probleme. "Wird ein sozialpartnerschaftlich organisiertes Sozialsystem, das familienorientiert ist, gut bezahlte Vollbeschäftigung für Männer, die Familienerhalter sind, zu sichern versuchen und eine weite Streuung der alternativen Beschäftigungsformen auf Jugendliche, Frauen und ältere Arbeitskräfte forcieren?" fragt die Ökonomin Gudrun Biffl vom Wirtschaftsforschungsinstitut. Was passiert wenn Frauen zunehmend Familienerhalter sind? Wenn der Großteil der Männer in Zukunft infolge von befristeten Beschäftigungsverhältnissen ähnliche unterbrochene Arbeitskarrieren haben wird wie derzeit etwa 15 Prozent aller Erwerbspersonen (meist Frauen), wird der Wohlfahrtsstaat diese arbeitslosen Phasen überbrücken?

Der Autor ist Sozialexperte der evangelischen Diakonie Österreich.

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