Atatürk wäre schon in der EU

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Selim Yenel, der türkische Botschafter in Österreich, erklärt, warum er Atatürkist und kein Kemalist ist und weshalb sich türkische Autoren nicht mehr fürchten müssen.

Botschafter Selim Yenel ist seit Jänner 2006 der diplomatische Vertreter der Türkei in Österreich. Der 52-Jährige ist ein ausgewiesener EU-Spezialist, wohl mit ein Grund, dass er nach Auslandsposten in Paris, Kabul, New York und Brüssel nun in Wien um eine bessere Akzeptanz für die Türkei als EU-Beitrittskandidaten werben soll.

Die Furche: Herr Botschafter, diesen Freitag entscheidet sich, wer von den drei Bewerbern Türkei, Österreich oder Island es in den UN-Sicherheitsrat schafft. Ihr Land war 1961 das letzte Mal in diesem Gremium – ist die Kandidatur ein Zeichen, dass sich die Türkei selbstbewusst auf der Weltbühne zurückmeldet?

Selim Yenel: Wir haben schon in den 1980er- und 90er-Jahren kandidiert, aufgrund der starken Konkurrenz aber immer wieder zurückgezogen. Doch dieses Mal gehen wir bis zum Ende. Sie haben wahrscheinlich Recht, das hängt mit einem gesteigerten Selbstbewusstsein zusammen. Wir sind aktive Friedensvermittler im Nahen Osten, im Kaukasus, in Afghanistan, am Balkan … Das qualifiziert uns auch für den Sicherheitsrat – zusammen mit Österreich, hoffentlich!

Die Furche: Mitbewerber Island schlittert gerade in einen Staatsbankrott – aus der Türkei hört man, sie seien geübter im Umgang mit Finanzkrisen?

Yenel: Leider ja! 2000 und 2001 erlebte die Türkei zwei Finanzkrisen, und wir haben sehr darunter gelitten. Wir sind durch ein Fegefeuer gegangen, deswegen sind wir heute von der momentanen Krise nicht so stark betroffen. Unsere Banken sind heute stärker, weil sie strenger kontrolliert werden.

Die Furche: Die Lehre aus der türkischen Krise ist, dass Finanzmärkte lernfähig sind?

Yenel: Nicht unbedingt, denn bei uns hat erst die zweite Krise ein wirkliches Umdenken ausgelöst. Die wichtigste Lektion ist sicherlich: Ohne Kontrolle geht es nicht.

Die Furche: Geistig-kulturelle Themen werden derzeit von den Finanz-Schlagzeilen in den Hintergrund gedrängt. Nichtsdestotrotz erweist sich die dieswöchige Frankfurter Buchmesse als Publikumsmagnet – und die Türkei als Schwerpunktland profitiert.

Yenel: Für mich spielt die Kultur im Zusammenleben und gegenseitigen Kennenlernen von Staaten und Menschen sogar eine wichtigere Rolle als Finanz oder Politik. Die Frankfurter Buchmesse ist für uns wichtig, da dort neben den berühmten türkischen Literaten auch weniger bekannte, aber wichtige Autoren einem großen Publikum vorgestellt werden. In Wien sehe ich jetzt in vielen Buchhandlungen türkische Bücher in den Auslagen und ich bin überzeugt, dass uns die Literatur, die Kunst näher zusammen bringt.

Die Furche: Täuscht der Eindruck, oder sind die türkischen Schriftsteller im Ausland mehr geliebt als in ihrer Heimat?

Yenel: Das stimmt so nicht. Sie haben auch ihr Publikum in der Türkei. Es ist fantastisch, wie viele Menschen heute in der Türkei zu Büchern greifen. Lesen ist heute in!

Die Furche: Und Bücher schreiben? Die Meldungen über verfolgte türkische Autoren deuten in eine andere Richtung.

Yenel: Es wurden und werden nur Einzelne verfolgt. Es schreiben ja auch nicht viele über politische Themen. Und diejenigen, die gerichtlich verfolgt wurden, sind dadurch berühmt geworden – das war gut für sie!

Die Furche: Auf diese Art von Ruhm würde so mancher Autor wohl gerne verzichten.

Yenel: Seit wir den Artikel 301 im türkischen Strafgesetzbuch geändert haben, ist niemand mehr wegen des Delikts der Beleidigung der türkischen Nation eingesperrt worden. Es ist seither sehr schwierig, jemanden aufgrund dieses Artikels vor Gericht zu stellen. Und das ist gut so: Wir brauchen Redefreiheit, wir brauchen Gedankenfreiheit. Wem das nicht gefällt, was jemand anderer schreibt, muss es ja nicht lesen. So einfach ist das!

Die Furche: Das Buch „Uhrenstellinstitut“ von Ahmed Hamdi Tanpina wird gerade in den höchsten Tönen gelobt. Es beschreibt die Zeit, in der Kemal Atatürk die türkischen Uhren neu gestellt hat. Anfang November ist der 70. Todestag von Atatürk: Wäre es nicht an der Zeit, die politischen Uhren neu zu stellen?

Yenel: Nein, denn Atatürk war keine statische Person. Atatürk war ein Pragmatiker, er war immer offen für das wirkliche Leben, für Veränderungen. Er gab der Republik ihre Struktur, aber es sind die Menschen nach ihm, die weitergehen müssen. Die heutigen Türken müssen heute ihren Weg finden, gemäß der von Atatürk aufgestellten Prinzipien.

Die Furche: Die sind?

Yenel: Modernisierung, Freiheit und ein besseres Leben für die Menschen. Er war kein Nationalist im Sinne eines Faschisten, er war offen für Modernität, für Frauenrechte …

Die Furche: Für die Freiheit der Religion?

Yenel: Absolut! Atatürk war für die Trennung von Staat und Religion, aber die Bedeutung der Religion für das Individuum hat er hochgehalten. Atatürk wollte, dass wir der europäischen Aufklärung folgen. Deswegen war er der erste, der Religion und Staat in der muslimischen Welt getrennt hat.

Die Furche: Sie haben sich in einem früheren Gespräch einmal als Atatürkisten beschrieben – im Unterschied zu einem Kemalisten.

Yenel: Das ist richtig. Das Wort Kemalismus benutzen wir in der Türkei nicht, das höre ich nur im Ausland. Ein Atatürkist ist ein für gesellschaftliche Veränderungen offener Mensch. Wir folgen den Prinzipien von Staatsgründer Atatürk, sehen seine Worte aber nicht als in Stein gemeißelt.

Die Furche: So sieht das nicht jeder Türke.

Yenel: Unglücklicherweise waren viele Atatürk-Nachfolger statische Personen. Die wollten in den 1920er- und 30er-Jahren bleiben. Doch Atatürk würde auch heute der Entwicklung des Westens folgen. Ich bin sicher, wäre Atatürk noch am Leben, die Türkei wäre viel früher in der EU.

Die Furche: Die wichtigste Person in Atatürks Staatsmodell ist der Lehrer.

Yenel: Ja, denn er bringt Aufklärung. Deswegen auch die große Bedeutung der Frauen, denn sie sind die ersten Lehrer der Kinder. Und deswegen schickte er junge Leute ins westliche Ausland zum Studium.

Die Furche: Ihr Premier Erdogan schickt auch seine Tochter ins Ausland – weil sie mit Kopftuch zuhause nicht studieren darf.

Yenel: Erdogan hat auch seinen Sohn ins Ausland zum Studieren geschickt … (lacht!)

Die Furche: Eins zu Null für Sie! Mit der Kopftuch-Frage kann ich einpacken. Dann probiere ich es so: Erdogan sagte einmal, dass er ein „schwarzer Türke“ sei. Steckt hinter dem Kampf zwischen dem säkularen und dem religiösen Lager in der Türkei die Auseinandersetzung zwischen den „schwarzen“ Aufsteigern aus Anatolien und dem „weißen“ Establishment, das um Macht und Einfluss fürchtet?

Yenel: Ich sehe diese Unterscheidung nicht. Im Establishment waren immer auch Leute vom Land, aus Anatolien, nicht nur aus den Städten, aus Istanbul. Übergangszeiten sind immer schwierige Zeiten. Religiös konservativere Türken haben heute mehr Macht – politisch und wirtschaftlich. Mit diesem Wechsel tun sich viele schwer. Doch vergessen Sie nicht: Erdogans Partei AKP hat bei den letzten Wahlen 47 Prozent der Stimmen erhalten. Die sind nicht nur aus dem eigenen Lager gekommen, sondern auch aus dem Establishment.

Die Furche: Zum Establishment gehört auch die Armee und vor allem ihre Generalität. Verliert diese Institution gerade an Einfluss?

Yenel: Nein, die Armee macht zwar Fehler und wird kritisiert. Aber sie ist nach wie vor die am meisten respektierte Institution in der türkischen Öffentlichkeit. Und solange die Armee aus ihren Fehlern lernt, wird sie diesen Respekt nicht verlieren.

Die Furche: Die weitere Demokratisierung der Türkei trotz großem Einfluss der türkischen Armee ist für Sie also kein Widerspruch?

Yenel: Auf keinen Fall. Die Demokratie in der Türkei wächst. Wir sind in der richtigen Richtung unterwegs. Es gibt zwar Schlaglöcher, und der Weg ist nicht einfach, aber das Ziel ist klar: Das Ziel ist Europa.

1938

ist der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gestorben. Am 10. November jährt sich sein Todestag zum 70. Mal. 1923 hat Atatürk (Vater der Türken) als Kriegsheld die Türkische Republik gegründet und gegen den erbitterten Widerstand traditionalistischer Kräfte die strikte Trennung von Staat und Religion durchgesetzt.

„Wir brauchen in der Türkei Redefreiheit, wir brauchen Gedankenfreiheit. Wem das nicht gefällt, was jemand anderer schreibt, muss es ja nicht lesen. So einfach ist das!“

„Wir folgen den Prinzipien von Staatsgründer Kemal Atatürk, sehen aber seine Worte nicht als in Stein gemeißelt! “

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