golam - © Mirjam Reither

Auf der Flucht: Erinnerungen aus der Kindheit

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1938 wurde sie mit einem Kindertransport nach England geschickt. 70 Jahre später flüchtete er als 13-Jähriger nach Österreich. Ein Erfahrungsaustausch unter "Ankerkindern".

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1938 wurde sie mit einem Kindertransport nach England geschickt. 70 Jahre später flüchtete er als 13-Jähriger nach Österreich. Ein Erfahrungsaustausch unter "Ankerkindern".

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Dora Schimanko bestellt eine Melange, Golam Reza einen schwarzen Tee. Er spricht leise und bedacht, ihre Stimme ist schneidig und resolut. Er erzählt von seiner Frisör-Lehre, sie klagt über ihre widerspenstige Naturwelle. 62 Jahre liegen zwischen ihnen, aber eine Erfahrung eint sie: Beide waren sehr jung, als sie ihre Heimat verlassen mussten. Beide flüchteten allein, ihre Eltern kamen später nach. Dora und Golam sind die Schicksale hinter dem Un-Wort "Ankerkinder“.

DIE FURCHE: Sie beide waren sehr jung, als sie ohne ihre Eltern fliehen mussten. Wie wurden Sie auf die Reise vorbereitet?
Dora Schimanko:
Für mich kam es nicht überraschend. Meine Eltern hatten vor, Österreich mit mir gemeinsam zu verlassen. Aber dann hatte eine Bekannte, die einen Kindertransport nach England begleitete, plötzlich einen Platz frei, weil ein Kind krank war. Die Mutter hat gesagt: "Du fährst halt voraus.“ Das ist dann sehr schnell gegangen.

Golam Reza: Auch ich habe mich schnell entscheiden müssen. Ich war mit meiner Mutter und meinen Geschwistern im Iran. Dort war es furchtbar, Afghanen wurden sehr schlecht behandelt. Als ich elf war haben mich Polizisten geholt. Sie haben meine Freunde und mich verprügelt und uns dann gezwungen ihre Toiletten zu putzen. Ich konnte dort nicht bleiben, wollte nach Europa. Ich habe einen Schlepper gefunden und mit meiner Mutter geredet. Drei Tage später bin ich schon gefahren. Ich hatte Kekse mit, Wasser und warme Sachen zum Anziehen. Aber ich hatte gar keine Ahnung, wie gefährlich es ist, nach Europa zu kommen.

Dora: Ich hatte den Vorteil, dass mein Großvater und mein Onkel schon in England waren. Ich wurde von meiner Familie abgeholt. Aber die anderen Kinder auf dem Transport sind ins Ungewisse gefahren. Die haben die ganze Zeit nur geweint.

Golam: Ich war zweieinhalb Monate unterwegs. Viele, die ich auf dem Weg getroffen hab, waren so alt wie ich, manche auch jünger. An der Grenze zwischen Iran und Türkei mussten wir zu Fuß über Berge gehen. Von der Türkei wollten wir mit einem Schlauchboot nach Griechenland rudern. Ich hatte große Angst, das Meer war riesig. Nach drei Stunden hat uns die Polizei entdeckt und in die Türkei zurück geschickt. Sie haben zwei Löcher ins Boot gemacht, damit wir uns beeilen. Ein Mann ist ins Wasser gesprungen und wollte schwimmen. Ich weiß bis heute nicht, was mit ihm passiert ist.

Dora: Auch mich drückt es noch heute, dass ich nicht weiß, was aus dem Kind geworden ist, dessen Platz im Zug ich bekommen habe.

DIE FURCHE: Wie erlebten Sie die erste Zeit in England bzw. Österreich?
Dora:
Obwohl ich schon sechs war, wurde ich in den Kindergarten geschickt, aus sprachlichen Gründen. Das war schlimm für mich.

Golam: Ich bin nach zwei Wochen in Traiskirchen in ein Haus der Diakonie nach Mödling gekommen und bin in die Hauptschule gegangen. Das war schwer. Die Sprache war neu, die Schrift, ich musste erst das Alphabet lernen. Drei Monate lang hatte ich gar keinen Kontakt zu meiner Familie. Das Rote Kreuz hat mir geholfen, sie zu finden.

Dora: Meine Eltern sind nach sechs Wochen nachgekommen. Kurz vor Kriegsbeginn haben sie mich aber noch einmal weggeschickt, von London in ein englisches Dorf. Das war ein Schock für mich. Ich durfte kein Wort Deutsch sprechen, wurde anglikanisch getauft, musste drei Mal täglich beten.

Golam: Ich wollte nur arbeiten, damit ich meiner Familie Geld schicken kann. Aber es ist mir sehr schlecht gegangen. Ich konnte nicht schlafen, war immer traurig. Dann hat mir mein Betreuer gesagt, dass meine Familie vielleicht nachkommen kann.

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