"Auf der Straße geboren, ganz allein"

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Hausbesetzer, Landlose und Straßenkinder - eine Reportage vom Überlebenskampf der Ärmsten im brasilianischen Großstadtdschungel.

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Hausbesetzer, Landlose und Straßenkinder - eine Reportage vom Überlebenskampf der Ärmsten im brasilianischen Großstadtdschungel.

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Ein Transparent mit roten Lettern prangt über dem Haustor des stattlichen, etwas verkommenen Bürgerhauses in der Rua Floriano Peixoto im Zentrum von Sao Paulo.

"Ocupar, resistir, construir, morar" ("Besetzen, Widerstand leisten, aufbauen, wohnen") verkünden sie das Credo der brasilianischen Hausbesetzerbewegung, die stolz ist, sich eine Art legalen Status erkämpft zu haben. Daß es schräg gegenüber dem Justizministerium liegt, ist nicht Zufall, sondern Absicht. "Letztes Jahr besetzten wir einen Tag lang eine große Bank", erzählt Luiza, Koordinatorin des besetzten Hauses. Sie und ihre Mitstreiter wollen ein Dorn im Auge der Öffentlichkeit sein.

Sich Zugang in das Innere des besetzten Hauses zu verschaffen, ist nicht einfach. Man muß schon in Begleitung einer Vertrauensperson kirchlicher oder politischer Stellen kommen, um eingelassen zu werden. Ein bulliger Rausschmeißer-Typ schiebt am Haustor Wache, erst nach längerem Hin und Her öffnet er das Vorhangschloß.

Unter dem Movimento herrscht eine strenge Hausordnung. Die Männer sind im Turnus zum Wachdienst eingeteilt, die Frauen müssen abwechselnd Flure und Toiletten reinigen. Der Besitzer der Liegenschaft ist eine Bank, welche die Hausbesetzer - wie lange wohl? - duldet. 15 Reales (brasilianische Landeswährung) muß die Hausgemeinschaft monatlich entrichten. Zu diesem Zweck erscheint ein Mitarbeiter der Bank, um bei dieser Gelegenheit das Haus zu inspizieren - jedes Mal eine Zitterpartie für die Besetzer. In unmittelbarer Nachbarschaft findet sich ein weiteres, allerdings illegal besetztes Gebäude. "Dort sind auch Drogenhändler. Die Polizei ist alle Augenblicke im Haus", schildert Luiza.

Die quirlige 30jährige stammt aus Paramaribo und ist die kinderreichste aller Insassinnen des Movimento-Hauses in der Rua F. Peixoto. Acht Kinder zwischen zwei Monaten und elf Jahren hat sie, und sechs davon wohnen bei ihr. Auf rund vier mal acht Quadratmetern, deren Wände Tücher und Pappe bilden, denn jedes der ehemaligen Großraumbüros in dem achtstöckigen Bau wird in vier Wohneinheiten unterteilt. Luizas Kleinstes liegt auf der Couch und schreit.

HIV-positiv Erst später ist zu erfahren: das Baby ist HIV-positiv. Luizas Werdegang ist symptomatisch für viele Brasilianerinnen aus den ärmsten Schichten. Ihr Mann ließ sie mit vier Kindern sitzen, sie zog in die Großstadt, schlug sich als Prostituierte durch. Die Andenken aus dieser Zeit: drei weitere Kinder und das Aids-Virus. Auch ihr jetziger Partner, Joao, ist HIV-positiv. Luiza lernte ihn als Drogensüchtigen ausgerechnet vor dem feinen, rosaroten Justizministerium kennen. "Heute ist er clean", sagt sie stolz. Er versucht, als Straßenhändler etwas für die Großfamilie der Gefährtin zu verdienen. Die energische kleine Mulattin hat auch die Gefängnisse Brasiliens kennengelernt. Nicht etwa die illegale Prostitution brachte sie hinter Gitter, sondern ihr Aktivismus für die Hausbesetzerbewegung. Während der Haft kümmerte sich das Movimento um Luizas Kinderschar. Als alleinstehende Mutter kennt sie auch die Härten der Straße. Lucas, das Drittjüngste, hat sie buchstäblich "auf der Straße geboren, ganz allein". Der lebhafte Bub läßt beim Gang durch das Haus seine Mutter nicht aus den Augen. "Ocupado" steht auf fast jeder Türe, was in diesem Fall bedeutet, daß die Wohneinheiten dahinter belegt sind. In einem "Wohnquadrat" richten sich gerade obdachlose Neuankömmlinge häuslich ein. Menschen aller Rassen, Schwarze, Indios und auch Weiße, blicken uns neugierig an. Ihr Mißtrauen hat sich gelegt, denn Jose von der Straßenkinder-Betreuung der Franziskaner begleitet mich.

Flucht vor der Polizei Mit Sperrholz und Pappe versuchen die einzelnen Familien, sich gegen die im selben Raum wohnenden Nachbarn abzuschirmen, um ein Minimum an Privatsphäre zu schaffen. Ein bärtiger Mann um die 40 hat großflächige Fahnen der "PC do Brasil" in Zimmerwände umfunktioniert. Abgeordnete der Kommunistischen Partei unterstützen das Movimento bei Hausräumungen, sagt Luiza. Die PC stelle den auf die Straße Gesetzten und Aktivisten auch Anwälte zur Verfügung. Fernando lebt mit Frau und zwei Kindern in einem Sammelsurium an Gegenständen. Er hat einen Fernseher, eine eigene Waschmaschine, jede Menge Spielzeug liegt herum.

Die Familie wurde delogiert, sie konnte einiges an Inventar retten. Auch hat Fernando zumindet an Wochenenden einen Job in einer Parkgarage. Eine spindeldürre alte Frau bereitet nebenan eine Suppe für ihre Enkelin; den Aufenthaltsort ihrer Tochter kennt sie nicht. Vor dem Tor haben sich einige Ambulantes versammelt. Zwei sind gerade einer Polizeikontrolle entwischt. Ihre große Tasche birgt die gesamte Ware, die sie noch rechtzeitig wegraffen konnten. Luizas Gefährte Joao schlichtet Regenschirme in einen Einkaufswagen. Morgen wird er sein Glück versuchen.

Eine große blaue Decke gehört auch zum Inventar - "zum Abhauen" im Fall des Falles, klärt mich Luiza auf. Keinen kümmern die hinter dem Ministerium geparkten Polizeiautos. Vom Büro der Versicherung gegenüber wird die Szenerie beobachtet. Jeder Vorwand wäre willkommen, um die unvornehmen Nachbarn loszuwerden. Wenigsten für eine Zeitlang haben die Ocupantes eine Bleibe. Joses Schützlinge haben nur die Straße - und ein Haus der Franziskaner, in dem sie eine warme Mahlzeit am Tag bekommen und einige Stunden schlafen können. Heerscharen Obdachloser birgt die Metropole Sao Paulo, "Abfallmenschen" für die brasilianische Gesellschaft, wie Paulo Suess sagt, theologischer Berater des Indianer-Missionsrates CIMI. Täglich suchen etwa 50 Menschen die Tagesstätte der Franziskaner beim Mosteiro de Sao Bento auf. Sie können dort baden, essen, sich im Kleiderbazar bedienen, Rat einholen. Im Anbau des Pfarrheims liegen, hocken Menschenbündel, dösen vor sich hin, um Kraft zu schöpfen für eine weitere Nacht auf der Straße. Ein junger Mann repariert auf einem Tisch Uralt-Radios, sein Vater schläft daneben auf dem Boden.

Die Straßenmenschen bringen ihre Kinder mit, 17 werden derzeit ständig betreut. In den zwei Aufenthaltsräumen ist gerade Siesta. Quietschvergnügt tummeln sich die Kleinen auf den Bodenmatten. Die Nacht verbringen auch sie zumeist auf der Straße. Das Franziskaner-Heim wird von einem Ehepaar geleitet, ehemals Priester und Nonne. Dazu kommen sieben freiwillige Helferinnen. Der Psychologiestudent Jose ist die Bezugsperson der meist vaterlosen Kinder. Tags-über arbeitet er im Zentrum, abends besucht er die Uni. Seit kurzem wird Jose auch für die kirchliche Häftlingsbetreuung eingeschult.

Weg von der Straße Vor wenigen Jahren war der junge Mann noch Zuckerrohrschneider, dann besuchte er die Dorfschule. In Sao Paulo verschaffte ihm der Bischof einen Studienplatz. Oberstes Ziel des Zentrums ist es, die Kinder von der Straße wegzubekommen. Es bemüht sich, sie einzeln in Kindergärten und Schulen unterzubringen. Obdachlose Erwachsene werden zur Überbrückung oft in besetzten Häusern einquartiert. Manchmal werden in einer Nacht-und Nebel-Aktion Menschen in die Regionen der "Sem Terra" geführt. Vor wenigen Wochen wurden zirca 100 Menschen von Sao Paulo in einen von der "Ohne-Land-Bewegung" besetzten Streifen in Parana gebracht, erzählt Paulo Suess. Das Land erbarmt sich eher der Ärmsten als die Großstadt. Es ernährt sie zumindest.

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