Aufbruch eines jungen alten Landes

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Russland ist Gast auf der Frankfurter Buchmesse. Auch wenn das Land darniederliegt: Die Literatur in Dostojewskijs Heimat boomt.

Jedes Jahr rückt die Frankfurter Buchmesse ein Gastland in den Mittelpunkt des medialen Interesses und gibt ihm damit die Chance, im deutschen Sprachraum wahrgenommen zu werden: mit seiner Literatur und Kultur.

Russland, die Literaturnation mit bedeutender Tradition, hat ein intensives Jahrzehnt des Umbruchs von alten Orientierungsdogmen zu einem radikalen Pluralismus hinter sich. Die Vielfalt heutiger Literaturproduktion, die im Lande auch als Wirtschaftzweig boomt, ist in Frankfurt durch 150 Autorinnen und Autoren vertreten. Befreit von sowjetideologisch aufgeladener Sprache machen sich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller an das kreative Umgestalten alter Traditionen.

Leser gibt es genug im Land. Sie sind dabei nachzuholen, was bisher nicht möglich war, und lassen sich früher Verbotenes schmecken, Exilliteratur ebenso wie Texte von Dissidenten.

Moskauer U-Bahn 1992: Mindestens jeder Zweite liest. Das "lesefreudigste Volk" hat einiges nachzuholen - nicht in der Quantität, und durchaus nicht in der Literaturqualität. Schließlich hat man auch in der Sowjetunion gelesen, vor allem was als "Gute Literatur" galt: russische Klassiker und unverdächtige Übersetzungen westlicher Literaturautoritäten. Was man nach dem Wegfall der Zensur jetzt nachzulesen beginnt, ist die politisch relevante, von den Sowjets totgeschwiegene Exil- und Dissidentenliteratur. Dementsprechend dominieren die Titel russischer Autoren die Waggons.

Moskauer U-Bahn 2003: Jeder Fünfte liest. Die Aufmachung der Bücher hat mehrere Modernisierungssprünge hinter sich. Zehn Prozent der Lesenden blieben bei der "Guten Literatur", die mittlerweile mehr als zur Hälfte aus Übersetzungen westlicher Werke besteht. 90 Prozent haben anderes gefunden.

Über allem Krimis

Sachbücher über neue Gebiete wie Informatik und Buchhaltung sowie Boulevardblätter verdecken die Gesichter. In leichte Frauenromane hat sich das weibliche Lesepublikum vertieft, in Science fiction das männliche. Und über allem Krimis. Dostojewskijs weibliche Nachfahren haben das zur Sowjetzeit verstummte Genre zum dominierenden gemacht. Eine Handvoll Russinnen (Alexandra Marinina, Polina Daschkowa, Darja Donzowa) komponiert den Löwenanteil der Detektivlektüre. Unterhaltung ist angesagt. Außerdem entspricht der Krimi den brutalen Lebensverhältnissen des Wild-West-Kapitalismus - zumal mit dem behaglichen Moment, dass im Unterschied zur Realität am Ende das Recht über die Willkür siegt.

Das Leben ist schneller geworden, aufwändiger als zu Sowjetzeiten. Wer zwölf Stunden und mehr täglich arbeitet, um einigermaßen gut zu leben, liest keinen Puschkin. Zu Beginn des dritten Jahrtausend will man nicht auch noch beim Lesen arbeiten.

Die russische Gesellschaft hat eine intensive Umbruchszeit hinter sich. Alte Orientierungsmuster wichen einem radikalen Pluralismus, in der Literatur nicht weniger als in allen übrigen Lebensfacetten. Nicht nur der Literaturkanon steht in Frage, auch die Unterteilung der Schriftsteller in Staatsdichter, Untergrund-Autoren und Emigranten ist passé.

Einem tiefgreifenden Wandel wurde die Rolle der letzten beiden unterworfen: Zur Sowjetzeit war der Schriftsteller zum Priester, zur politischen Opposition und zur Autorität in philosophischen und soziologischen Belangen geworden. Seit der Perestrojka hat er diese Akkumulation uneigentlicher Kompetenzen verloren. Die Schriftsteller selbst erleben es als Befreiung, einfach Dichter sein zu können.

Gerade die Rolle der politischen Opposition ist mit dem Aufkommen der freien Massenmedien weitgehend aus den Büchern verschwunden. Um dennoch auf Politisches zu reagieren, wählen viele Autoren heute die Plattform politischer Kolumnen in Zeitungen: Der einstige Dissident Wladimir Wojnovitsch schreibt für die liberale Nowyje Iswestija, sein Gegner Alexander Prochanow platziert seine nationalen Ideen im rechten Blatt Sawtra.

Staatliche Zensur

Daher zielen staatliche Zensurmaßnahmen, eines der Charakteristika der Putinzeit, auch heute nicht auf das Buch, sondern die Medien. Wiewohl es auch für die Literatur beredte Fälle politischer Restriktion gibt: So ließ der Geheimdienst FSB die im Westen gedruckten Bücher des renommiertesten tschetschenischen Schriftstellers Musa Geschajew beim Import am Zoll konfiszieren.

Andererseits brachte Alexander Prochanows Skandalroman "Herr Hexogen", in dem er den Geheimdienst FSB für die Häuserexplosionen 1999 in Russland verantwortlich macht, Putin nicht in Bedrängnis, dafür dem Verlag, der sich gerne mit Qualitätsliteratur wie Sorokin rühmte, sensationelle Einnahmen.

Lebendiges Verlagswesen

Russland ist auch zu Beginn des dritten Jahrtausends ein Land der Leser geblieben, die Literaturproduktion ein entsprechend boomender Wirtschaftszweig. Keine Zeitung ohne eine Bücherkolumne, kein Radio oder Fernsehkanal ohne Buchsendung. Die größte Lebendigkeit freilich weist das Verlagswesen auf. 5.000 bis 6.000 Verlage zeigen Marktaktivität. 75 Prozent der Titel und 90 Prozent der gesamtrussischen Auflagen werden in den Gebieten Moskau und Petersburg hergestellt.

Die 60 größten Verlage (je mindestens 100 Buchtitel) edieren jährlich an die 70 Prozent aller Auflagen, allerdings nur gute 30 Prozent der jährlich über 70.000 Titel. Dies bedeutet, dass die riesige Menge der Titel von den Hunderten boomender Klein- und Miniverlage produziert wird. Sie bilden heute das lebendige Rückgrat der postsowjetischen Buchkulturproduktion.

Spärlich und qualitativ undifferenziert vom Westen wahrgenommen, hat sich auf dem wilden, aber fruchtbaren Boden der neunziger Jahre eine unglaubliche Literaturvielfalt in Russland entwickelt. Die Sprache wurde vom Müll der sowjetideologischen Aufladung gereinigt. Überhaupt ist die Übergangszeit gekennzeichnet von einer breiten Dekonstruktion alter Traditionen und mannigfaltigen Neusynthesen. Neben der Imitation westlicher Tendenzen wurden so eigene Richtungen wie der Konzeptualismus kreiert.

Am dichtesten an die postmoderne Literatur des Westens haben sich Wiktor Jerofejew, Wiktor Pelewin ("Buddhas kleiner Finger") und Wladimir Sorokin (siehe Seite 7) herangeschrieben. Während Pelewin mit der Meisterschaft eines Soziologen zeitgenössische Befindlichkeiten reproduziert, wandelt Sorokin mit seiner "Ästhetik der Hässlichkeit" (Dagmar Burkhart) auf dem Kreislauf von Macht, Sprache und Gewalt. In seinem neuen "Sekten"-Roman "Das Eis" konterkariert er die utopische Sehnsucht nach einer liebevollen "Sprache der Herzen" durch eine anti-utopische Brutalität, mit der die Sektierer gewöhnliche "Fleischmenschen" töten.

Die Stadt als Handlungsort

Neben dem Krimiboom sprießt eine Fülle Avantgarde. Die Stadt hat das Dorf als Handlungsort abgelöst. "Lebt in Moskau!" fordert Dmitrij Prigow programmatisch im Titel seines neuen Buchs. Der Altmeister der SozArt, der Parodie auf die sowjetische Kultur, macht in einer Art Autobiografie seine Stadt zur Hauptheldin, zur Metropole grotesker Katastrophen und Gewaltexzesse. Moskau ist auch der Schauplatz von Jurij Mamlejews Roman "Die irrlichternde Zeit", der das Russland der 90-er Jahre in exzentrischer Manier als Totenhaus vorführt. Jahrzehntelang fand Mamlejew keinen russischen Verleger, heute gilt er als Kultautor der Moskauer Konzeptualisten.

An die 150 Autoren fliegt Russland zum Großereignis nach Frankfurt, davon 30 russischer Abstammung, die in anderen Staaten leben. Erstmals als Spezialgast in Frankfurt und das gleichzeitig als Land im Krieg. Dass ein Land, das seit Jahren neben Menschen auch die tschetschenische Kultur durch Vernichtung von Büchern auslöscht, auf die Einladung eines tschetschenischen Schriftstellers vergisst, scheint fast konsequent.

Dass es offenbar wegen einer vom Suhrkamp-Verlag veranstalteten Tschetschenien-Diskussion und im Detail wegen der Einladung der vom Kreml verhassten Tschetschenien-Korrespondentin Anna Politkowskaja zu Interventionen kam, denen man mit einer Ausladung der Journalistin entsprach, sagt auch etwas über Realpolitik in kriegsfreien Kulturländern.

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