Aus Interesse am Überleben

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Über falsche und richtige Gründe, dem Menschen ein Lebensrecht zuzusprechen.

Wie lässt sich ein verbindliches Verbot der Tötung von Menschen überzeugend begründen? Man mag einwenden, diese Frage sei sehr akademischer Natur - ist es denn nicht eine pure Selbstverständlichkeit, dass man seine Mitmenschen nicht töten darf? Dies gilt in der Tat in weiten Bereichen unseres Alltags als Selbstverständlichkeit. Es gibt jedoch auch Lebensbereiche, wo die Antwort auf die Frage nach der Berechtigung eines Tötungsverbots sehr viel schwerer fällt. Dies trifft insbesondere auf die Grenzbereiche des menschlichen Lebens zu. Seit Jahren ist in unserer Gesellschaft die Frage nach dem unbedingten Lebensschutz sowohl am Anfang als auch am Ende des Lebens sehr umstritten. Aber nur wenn wir uns darüber klar werden, welches in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft der eigentliche Grund für ein Tötungsverbot auch dort ist, wo diesem Verbot in der Praxis jeder zustimmt, haben wir eine gute Chance, eine überzeugende Lösung auch für jene Grenzbereiche zu finden, in denen das Tötungsverbot umstritten ist.

Leerformel "Menschenwürde"

Damit komme ich zu der Rolle, die zum einen die so genannte Menschenwürde und zum anderen das so genannte Recht auf Leben für eine stichhaltige Begründung des Tötungsverbots spielen kann. Um das Ergebnis meiner Überlegungen vorwegzunehmen: Die Menschenwürde kann dabei überhaupt keine Rolle spielen, sie erweist sich nämlich bei näherem Hinsehen als ideologische Leerformel. Das jedem Menschen zukommende individuelle Recht auf Leben dagegen ist die eigentliche Basis des Tötungsverbots - eine Basis, die auch die Lösung für die genannten Grenzbereiche darstellt.

Wieso kann uns die "Menschenwürde" nicht weiterhelfen? Weil es noch niemandem gelungen ist, eine brauchbare Definition dessen zu geben, was "Menschenwürde" bedeuten soll. Die Aussage, wonach ein bestimmtes Verhalten die Menschenwürde verletze, liefert keinerlei Begründung für die Verbotswürdigkeit des betreffenden Verhaltens; diese Aussage gibt nur der bereits vorausgesetzten Verbotswürdigkeit einen besonders suggestiv wirkenden, scheinbar unangreifbaren Ausdruck. Der Begriff "Menschenwürde" wird als ein rein normativer Begriff verwendet.

Nicht die Menschenwürde also, sondern nur das individuelle Recht auf Leben, basierend auf dem menschlichen Überlebensinteresse, bildet die rationale Grundlage für ein Tötungsverbot in der Gesellschaft. Das Recht auf Leben hat nicht irgendeinen Schutz des Lebens zur Konsequenz, sondern einen ganz spezifischen, einzigartigen. Das individuelle Recht auf Leben hat nämlich den Sinn, das betreffende Individuum um seiner selbst willen zu schützen.

Lebensschutz total?

Aus dem Schutz des Lebensrechtes des Menschen ergeben sich folgende Konsequenzen: 1. Jegliche utilitaristische Gesamtkalkulation ("Welche Maßnahme hat für die Gesamtheit der von ihr betroffenen Menschen, also alles in allem, die besten Folgen?") ist ausgeschlossen. 2. Die Tötung eines Individuums ist nur unter ganz speziellen Bedingungen (z.B. Notwehrsituation) zulässig.

Wenn es nun aber so wäre, dass dieser qualifizierte Schutz des Lebensrechts nicht erst dem geborenen menschlichen Individuum sondern bereits dem menschlichen Embryo zustünde, so hätte diese Tatsache gravierende Konsequenzen für jeglichen Umgang mit dem Embryo: 1. Jede gewöhnliche Abtreibung müsste verboten sein. Es könnten nur noch solche - sehr seltenen - Abtreibungen zugelassen werden, die nötig sind, die Schwangere vor dem Tod oder schwer wiegenden Gesundheitsschäden zu bewahren. 2. Jede Tötung des Embryos in vitro (im Reagenzglas), gleichgültig ob im Zusammenhang von Präimplantationsdiagnostik (pid) oder von Forschung, müsste verboten sein.

Lebensrecht ...

Es besteht also kein Zweifel, dass die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebensrechts von entscheidender Bedeutung ist. Die Antwort auf diese Frage aber hängt davon ab, wie man letztlich das Menschenrecht auf Leben überhaupt begründet. Hiezu gibt es drei mögliche Antworten: eine metaphysisch, eine religiös und eine empirisch fundierte. Da ich rechtliche Regelungen für menschliche Erfindungen halte, die praktischen Bedürfnissen und Interessen der Menschen dienen - und nicht für Abbildungen vorgefundener metaphysischer Entitäten -, plädiere ich für eine empirisch fundierte Konzeption des menschlichen Lebensrechts.

... von der Geburt ...

Dass einem Individuum von der Gesellschaft das Recht auf Leben eingeräumt wird, setzt demnach voraus, dass dieses Individuum ein Interesse am Überleben besitzt, das durch die Tötung massiv verletzt würde. Was heißt das? Jedes Interesse ist an einen Wunsch, ein bewusstes Streben gebunden. So habe ich etwa ein Interesse an vitaminreicher Nahrung, wenn ich wünsche, gesund zu bleiben und wenn vitaminreiche Nahrung ein geeignetes Mittel zur Erreichung dieses Ziels ist. Dies gilt auch dann, wenn ich über die Wirkung von Vitaminen nicht Bescheid weiß. Analog dazu hat am Überleben ein Kleinkind Interesse, das den Wunsch hat, in einigen Stunden seine Großeltern zu besuchen. Dass das Kind einen Begriff vom Überleben hat oder weiß, was Sterben, gar Todesangst bedeutet, ist dafür nicht notwendig; und auch nicht, dass das Kind sein Interesse oder den zugrundeliegenden Wunsch sprachlich artikulieren kann. Worauf es einzig ankommt, ist, dass das betreffende Individuum die aktuelle Fähigkeit besitzt, zukunftsbezogene Wünsche zu haben - also Wünsche, deren Realisierung das Überleben voraussetzt bzw. durch eine Tötung verhindert würde.

Tiere, deren Bewusstsein ausschließlich auf die Gegenwart bzw. die unmittelbare Zukunft gerichtet ist, haben kein Überlebensinteresse in diesem Sinn - auch dann nicht, wenn sie instinktiv Dinge tun, die - wie etwa das Sammeln von Nahrungsvorräten - ihrem Überleben de facto dienen. Die Katze kann nicht heute die morgige Mäusejagd planen. Tieren fehlt das Bewusstsein von der eigenen Identität im Zeitablauf. Sie haben deshalb keine Vergangenheit und keine Zukunft, über die sie reflektieren könnten.

Wer nun ein solches Überlebensinteresse hat, der hat auch automatisch guten Grund, die Institutionalisierung seines eigenen Rechts auf Leben zu wollen und sich dafür einzusetzen. Diese rechtliche Absicherung des eigenen Rechts auf Leben lässt sich realistischerweise aber nur unter der Bedingung erreichen, dass ein Individuum bereit ist, auch allen anderen Individuen mit einem Überlebensinteresse das Recht auf Leben zuzugestehen.

Ab wann aber ist es hinreichend begründet, einem Individuum das Recht auf Leben zuzusprechen? Meines Erachtens genau vom Zeitpunkt der Geburt an. Zum einen können wir nach allen Erkenntnissen der Embryologie völlig sicher sein, dass das menschliche Individuum vor seiner Geburt noch kein Überlebensinteresse im beschriebenen Sinn hat. Zum zweiten wissen wir zwar nicht, wann genau beim Kleinstkind die ersten Ansätze dieses Überlebensinteresses auftreten; wir wissen aber aus der Erfahrung früherer Gesellschaften, dass jede Freigabe einer Kindstötung für einen gewissen Zeitraum nach der Geburt unweigerlich auch solche Kinder gefährdet, die mit Sicherheit bereits ein gewisses Überlebensinteresse haben. Eine mehr oder weniger freie Abtreibung dagegen birgt wegen der klaren und für jeden leicht feststellbaren Grenze eine derartige Gefahr nicht.

... bis zum Tod

Von daher verbietet es sich aber auch, geborenen menschlichen Individuen das Lebensrecht am Ende ihres Lebens wieder zu entziehen. Es gibt keinen festen Zeitpunkt vor dem eingetretenen Tod eines Menschen, von dem sich mit absoluter Sicherheit behaupten ließe, dass ab da kein Überlebensinteresse mehr gegeben sein könne. Es gibt keine eindeutig definierbare Kategorie von Menschen, von denen man mit derselben Sicherheit sagen könnte, sie hätten ein Überlebensinteresse nicht mehr, mit welcher man von Embryonen sagen kann, sie hätten es noch nicht. Die Zulassung einer Sterbehilfe, die der Betroffene selbst wünscht, ist damit nicht ausgeschlossen, da jedes individuelle Recht, das man besitzt, die Möglichkeit einschließt, auf seine Geltendmachung in concreto zu verzichten.

Prof. Dr. Norbert Hoerster, geb. 1937, lehrte bis 1998 Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Mainz.

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